In ihren Reihen strecken sich die Rebstöcke steil am Hang dem Licht entgegen. Sie brauchen die Sonne, damit ihre Trauben groß und saftig wachsen. Im Schutz der Berge, die zugleich auch dramatische Schatten werfen, gedeiht der Wein. Ich starte meinen Road-Trip in Trient in Südtirol. Nach dem Leben in Zurückgezogenheit während der zweieinhalb Jahre weltweit wütender Corona-Pandemie sog ich die Eindrücke von Orten und Begegnungen mit Menschen auf wie ein Schwamm. Auf meiner Urlaubstour durch Oberitalien und Kroatien suchte ich frühchristliche Bauten auf und spürte den Hoffnungen und Sehnsüchten ihrer Erbauer und der Menschen nach, die sie seit vielen Jahrhunderten besuchen.
Orte der Tradition versprühen Atmosphäre. Mir gefällt das. Manche von ihnen sind seit Jahrhunderten in Benutzung und wandeln sich teilweise auch heute immer noch weiter. Auch Gotteshäuser und die Städte um sie herum verändern sich und das permanent. Andere Orte sind verfallen oder längst verschwunden. Mittelalterliche Kirchen mit ihren dicken Mauern und aufwendigen Verzierungen prägen dabei heute oftmals unsere Vorstellungen von der christlichen Vergangenheit. Mein Reisebegleiter ist Kunsthistoriker. Daher erfuhr ich bald, alles fängt eigentlich schon viel früher an, in der Spätantike, also in der Zeit ab dem 4. Jahrhundert nach Christus.
Vielleicht sahen die ursprünglichen Gotteshäuser am Ort ganz anders aus? Wer waren eigentlich ihre Erbauer? Ich würde gern wissen, wie die Menschen damals tickten. Also machte ich mich auf die Suche nach Gotteshäusern und was von ihnen übrigblieb, manchmal waren das auch nur vereinzelte Steine, überwuchert von Gras. Man muss manchmal tiefer schauen, Bauphase liegt hier über Bauphase. Immer sollte es neuer und der entsprechenden Mode angepasst sein. Aber es gilt: Die frühen Christen liegen immer ganz unten.
In Vicenza, rund 60 Kilometer nordwestlich von Venedig entfernt, lag die Kirche San Felice e Fortunato ursprünglich an einer Ausfallstraße der römischen Stadt. Heute scheint sie zentraler, erhebt sich im Häusermeer in einer der reichsten Städte Italiens. Besonders die Schmuck- und Bekleidungsindustrie spült viel Geld in die Stadtkasse. Direkt hinter der Kirche steht heute ein Supermarkt. Wir kaufen uns Getränke, denn es ist heiß. Ungefähr anderthalb Meter unterhalb der heutigen Kirche liegen Mosaiken, die ursprünglich die Füße der Kirchenbesucher der Zeit um 400 nach Christus betraten. Sie zeigen geometrische Motive, Kreise mit Blattformen und auch das Motiv des Salomon-Knotens, ein in sich endlos verschlungenes Band. Dazwischen liegen in Feldern Stifterinschriften von Personen, die für die Ausstattung der Kirche Geld beigesteuert haben und dafür sich natürlich Prestige durch ihren Namen und auch Gutes für das eigene Seelenheil erhofften.
Das was da unten liegt, ist oft nicht so leicht zu sehen. Manchmal ist es staubig, oft ist es dunkel. In diesem Fall ist es sehr sauber, aber dennoch schwer zu erkennen. Ein Reinigungsteam, bestehend aus sechs munteren älteren Damen, erfreut sich an unserem Interesse und sorgt blitzschnell für Erleuchtung. Lampen sind so angebracht, dass die Mosaiken in ihren Farben strahlen: Es gibt Orange-, Braun- und Rot-Töne, alles im deutlichen Kontrast zu Weiß und Schwarz. Es folgt eine inoffizielle Führung durch den Kirchenbau, auf Italienisch, in hoher Geschwindigkeit. Wir freuen uns sehr und geben uns Mühe, allem zu folgen. Angebaut an die Kirche ist eine Kapelle. Ein kleiner Kuppelbau, der seit dem sechsten Jahrhundert an dieser Stelle der Andacht dient. In der originalen Kuppel kann man noch Mosaikreste sehen, einen Löwen, das Symbol des Evangelisten Markus.
Markus ist auch der Stadtpatron von Venedig. Nicht nur seine Kirche, die jeder kennt, ist interessant, sondern auch Santa Maria Assunta auf der Insel Torcello in der Lagune, deren Vorgängerbau wohl bereits aus der Spätantike stammt. Wir erreichen die winzige Insel erst nach zahlreichen Umstiegen in den kleinen Fährboten, den Vaporetti. Vom Anleger läuft ein Weg neben kleinen Kanälen und durch Schilf. Weiter hinten sieht man schon den Kirchenbau.
Die erste Bauphase von Santa Maria Assunta, Vorgängerin des heutigen mittelalterlichen Kirchenbaus, zu dem auch noch eine Taufanlage gehörte, die man heute noch vor der Fassade auf einem niedrigeren Bodenniveau sehen kann, stammt wohl bereits aus dem siebten Jahrhundert, was eine Inschrift, die heute im Chor der Kirche angebracht ist, verrät. In der Kirche beeindrucken Wand und Gewölbe-Mosaiken. Derartige Zusammensetzungen verschiedenfarbiger Steinchen, die den Boden pflastern und die Wände schmückten, begegnen uns auf unserer Tour immer wieder, es gibt sie fast überall. Eine Praxis, die uns heute nicht mehr so geläufig ist. Man fühlt sich manchmal an aufwendige Badeanlagen erinnert, aber in der Antike und der anschließenden Spätantike im Übergang zum Frühmittelalter gab es Mosaiken an und in sehr vielen Gebäuden, privaten wie öffentlichen, profanen wie sakralen, innen und außen.
Im Inneren von Santa Maria Assunta befinden sich berühmte venezianisch-byzantinische Mosaiken aus dem Mittelalter, besonders beeindruckt mich das große Weltgericht an der Westwand. Die Kirche mit ihrer langen Baugeschichte von Vorgängerbauten und Umgestaltungen ist eine der zentralen und oft, so scheint mir, nicht ausreichend wahrgenommenen Keimzellen des christlichen Kirchenbaus in der Region um Venedig.
Die Verehrung eines Märtyrergrabs
Eine der größten Kirchen der Welt steht in Padua. Vor Santa Giustina drückt die Hitze. Innen beeindruckt der riesige Innenraum und spendet Kühle. Der Backsteinbau der Basilika aus der Spätrenaissance, gebaut im Areal eines antiken Friedhofs, in dem man traditionell das Grab der Heiligen Justina vermutete, beeindruckt durch seine acht Kuppeln und vierzehn Nebenkapellen. Der Legende nach wurde die Heilige Justina als 16-jähriges Mädchen unter Kaiser Diokletian wegen ihres Glaubens zur Zeit der Christenverfolgung hingerichtet.
Wir lernen zufällig Giorgio kennen. Er hat ein Auge auf die Besucher:innen und, ein Glück für uns, die Schlüssel zu allen Türen und Toren griffbereit in der Tasche. So schreiten wir staunend von Raum zu Raum durch die Benediktinerabtei, kommen mit Mönchen ins Gespräch und auch der Geschichte der Verehrung der christlichen Märtyrerin immer näher. Wieder finden wir Mosaiken auf niedrigeren, früheren Bodenniveaus. Einzelne spätantiken Mauern stecken noch in der Wand. Wenn man sich ein bisschen eingeschaut hat, stellt man fest: Der Kirchenbau zeigt seine Entwicklung vom sechsten Jahrhundert bis heute. Rund um die Adria gibt es so viele verschiedene Orte, Geographien und Stimmungen.
So steht die mittelalterliche Kathedrale in Aquileia über den Resten der frühchristlichen Anlage. Zu sehen ist eine Meereslandschaft, in der sich Fische und anderes Meeresgetier tummeln. Dazwischen fahren geflügelte kleine Wesen, die sogenannten Eroten, in Booten und fischen. Im Boden erkennt man die Bauinschrift des Bischofs Theodorus, der die Kirchenanlage in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts hat errichten lassen. In der Antike war solch eine Szenerie Ausdruck von purer Lebensfreude, von entspanntem Leben am Wasser.
Melancholie weht durch Triest. Die hügelige mittelalterliche Hafenstadt empfängt einen und wer sich auf sie einlässt, will bleiben. Im Areal der Kathedrale San Giusto sind Hinterlassenschaften und Spuren heidnischer, christlicher und weltlicher Gebäude zu sehen, die auf dem Stadthügel an dieser Stelle seit der Römerzeit in eben dieser Reihenfolge erbaut wurden. Das Hauptportal der Kirche wirkt ungewöhnlich, denn zu seiner Errichtung hat man römische Grabreliefs mit Porträtköpfen verwendet.
Hier scheinen alle Zeiten miteinander verwoben. In einem mittelalterlichen Mosaik wird die Muttergottes mit Kind von Engeln vor goldenem Hintergrund flankiert. Auch die heutige Kirche ist nicht die erste am Ort und sie ist das Ergebnis von mehreren An- und Umbauten aus vielen Zeiten. In Triest wirkt vieles alt, es scheint manchmal ein wenig morbide. Triest ist auch die Stadt der Winde. Unberechenbar und wild wirbelt die Bora, ein kalter Fallwind, der vom Karst-Gebirge kommt, regelmäßig die Stadt und ihre Bewohner:innen durcheinander.
Alte Orte atmen Geschichte. Gerade im kroatischen Pore? lässt sich das sehen und nacherleben. Die Stadt liegt auf einer Halbinsel, die Euphrasius-Basilika zeigt sich schon aus der Ferne über dem Wasser. Der heutige Bau steht dort seit dem 6. Jahrhundert. Das Besondere ist: Er ist vollständig erhalten. Neben der Kirche gibt es noch eine Taufanlage. Man kann den Kirchenbau durchlaufen und die Bischofsresidenz als gesamte Anlage fast so erleben, wie es die Menschen taten als der Bau errichtet wurde.
Mosaiken an der Front über dem Eingangsportal, im Altarraum, Säulen und Kapitelle aus kostbarem Marmor, die Wände mit bunten Marmorplatten verkleidet und anderer Schmuck, wohin der Blick auch fällt. Bischof Euphrasius hat hier im sechsten Jahrhundert mit seinem Kirchenbauprojekt alles aufgefahren, was gut und teuer war. Die vielfarbigen Mosaiken des Altarraums schillern im Licht, das durch die Kirchenfenster fällt. Wenn es in einem solchen Kirchenraum still wird, umfängt einen die Ruhe der Zeit und schirmt ab vom lauten Lärm der globalisierten und digitalen Welt. An der Nordwand des Altarraums ist ein Mosaik der Verkündigung an Maria angebracht. Ein Engel hebt die Hand, ein Zeichen, denn er spricht. Das ist nicht leicht darzustellen in Bildern vor dem Zeitalter der Comics.
Rund 500 Kilometer weiter südlich auf einem der Hügel vor Split, in der antiken Stadt Salona, dem heutigen Solin, die Hitze drückt, zischt es im Gebüsch: Schlangen. Hier war früher in römischer Zeit das Zentrum und die Hauptstadt der gesamten Region mit Theater, Stadtmauer und Toren. Heute liegen die Reste der Siedlung teilweise tief im Gras. Man sucht unwillkürlich nach Schatten und wir eilen weiter.
In der Hafenstadt Split steht der Diokletianspalast, einst fast in der Mitte des Römischen Reiches gelegen, wurde er später zur Keimzelle der Altstadt. Der gesamte Prunkbau ist in Rekordzeit von 295 bis 305 geschaffen worden und diente als Altersresidenz für den römischen Kaiser Diokletian. Dieser ist auch bekannt für seine rigorose Christenverfolgung. Es wurde ihm in seinem Palast auch ein Mausoleum errichtet, in dem er zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Heute, Ironie der Geschichte, ist dieses Mausoleum des Diokletian die Bischofskirche von Split.
Ursprünglich war die Anlage des Palastes für den Herrscher, seinen Hofstaat und das Militär gedacht. Heute leben und arbeiten dort über 3.000 Menschen. Im Palast gibt es neben der Kathedrale Bars, Restaurants, Märkte, Cafés und Boutiquen, Hotels, und Wohnungen für Einwohner:innen der Stadt und kleine Museen. Straßenkünstler musizieren. Das Publikum lauscht bei Getränken in abendlicher Stimmung. Dieser Palast lebt immer noch. Die Stadt flirrt. Was genutzt wird, bleibt. Was die Menschen zur Nutzung auswählen, überdauert bis heute.
Es lohnt sich, so stelle ich fest, mit diesem Blick für die Vielschichtigkeit der Zeiten und der Orte vor die eigene Haustüre in die Welt zu gehen. Wenn man zudem noch mit Menschen darüber spricht, die man zuvor nicht kannte, erweitert sich die eigene Vorstellung vom Leben und fügt sich zu einem großen Mosaik zusammen. Die Geschichte fängt nicht nur mit uns und unseren Großeltern an. Aber sie entwickelt sich Tag für Tag mit uns weiter. Menschen aus den vergangenen Jahrhunderten, die vor uns lebten und wirkten, haben uns auch heute uns noch viel zu erzählen. Man muss nur hinhören oder hinschauen. Denn wer interessiert ist, der bleibt nicht lange allein, dem öffnen sich viele Türen in der Welt.