Die Einführung des "Grünen Punkts" im Jahr 1990 sorgte zudem dafür, dass mit gutem Gewissen konsumiert werden konnte, denn die immer größeren Müllmengen kehren ja dank des Recyclingverfahrens in den Wirtschaftskreislauf zurück. Diese Sicherheiten sind mittlerweile allesamt schweren Erschütterungen ausgesetzt: Die Altersvorsorge nimmt man lieber selbst in die Hand; Energiegewinnung soll sauberer werden, wird aber immer teurer; mehrere Jahre der Dürre hatten zur Folge, dass der Vorgartenrasen mancherorts im Sommer nicht mehr gewässert werden darf.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Sache mit dem Müll war ohnehin schon immer eine große Lüge: Anders als bei Papier oder Metall ist das Recycling von Plastik ein äußerst aufwändiger Vorgang. Und nicht nur das: Weil sich Verbundstoffe nicht ohne Weiteres trennen lassen, kann der weitaus größte Teil des Plastiks nicht wiederverwertet werden, weshalb unterm Strich bloß fünf Prozent des Mülls aus den gelben Säcken und Tonnen tatsächlich in den Kreislauf zurückkehren. Das restliche Recyclingprodukt wäre zu minderwertig, um zum Beispiel ein Comeback als Joghurtbecher zu erleben. Deshalb landet ein Großteil des von den Deutschen sorgsam und hingebungsvoll getrennten Materials, wie Tom Costello und Benedikt Wermter in ihrer 75 Minuten langen Dokumentation "Die Recyclinglüge" berichten, in den Verbrennungsanlagen von Zementwerken. Die entsprechenden Unternehmen bekommen sogar Geld dafür, dass sie ihre dringend benötigten enormen Energiemengen auf diese Weise gewinnen. Die Zeche zahlen letztlich die Verbraucherinnen und Verbraucher, denn die produzierende Wirtschaft gibt die Kosten für den "Grünen Punkt" natürlich weiter.
Dies ist jedoch nur ein Aspekt des Films. Die Deutschen produzieren viel mehr Müll, als die hiesige Zementindustrie verbrennen könnte. Aber was passiert mit dem Rest? Die Antwort darauf gibt Nina. Die junge Indonesierin ist so etwas wie ein Star in der Ökoszene, sie ist regelmäßig Gast von Veranstaltungen und war bereits Hauptfigur der Kika-Reihe "Wenn nicht ihr, dann wir!" über Kinder der Klimakrise ("Nina kämpft! Gegen Plastikmüll", 2021). Mit ihr beginnen Costello und Wermter ihren Film auch.
Der erste Satz der von Hansi Jochmann (deutsche Stimme von Jodie Foster) gewohnt ausgezeichnet gesprochenen Dokumentation lautet "Die Welt versinkt im Plastik", und Nina führt vor Augen, dass das durchaus wörtlich zu verstehen ist. Aus dem Müll fischt sie Verpackungen aller möglichen namhaften Konzerne; so viel zu den vollmundigen Versprechen, die diese Unternehmen in ihren PR-Videos geben ("Lasst uns unseren blauen Planeten wieder blau machen").
Zur Recyclingwahrheit gehört zudem die Erkenntnis, dass Deutschland seinem Ruf als Exportweltmeister auch bei diesem Thema gerecht wird. Seit China den Import von Müll 2018 verboten hat und andere asiatische Länder diesem Beispiel gefolgt sind, sucht sich der Abfall immer wieder neue Wege.
Dank der Zusammenarbeit mit einem Insider zeigen die Autoren ein mit der Knopflochkamera aufgenommenes Treffen mit einem türkischen Vermittler, der im Detail erläutert, wie sich das schmutzige Plastik im Container ins Land schmuggeln lässt: Vorn, an den Türen, wird das erlaubte Material gelagert, damit der gesamte Inhalt bei Stichproben sauber wirkt; der Dreck kommt nach hinten.
Aber die Kontrollen sind schärfer geworden, deshalb ist nun Bulgarien auf der Liste nach oben gerückt. Dort hat das Filmteam bei einer offenbar ungenutzten Recyclinganlage eine verblüffende Entdeckung gemacht: dreißig Ballen mit Verpackungsmüll, jeweils nach Produkten sortiert. Ein Name auf einem Etikett führt die Autoren nach Sheffield, wo eine Frau viel Zeit in ihr freiwilliges Engagement investiert hat: Die schockierte Britin war überzeugt, ein amerikanisches Unternehmen fertige aus dem von ihr sortierten Müll der Nachbarschaft Gießkannen.
In den USA besuchen die Autoren die Kalifornierin Jan Dell. Die Chemieingenieurin hat früher große Konzerne in Fragen der Nachhaltigkeit beraten und sich wie weiland Erin Brockovich nicht nur mit dem Recycling-Unternehmen, sondern auch mit dessen Partnerkonzernen angelegt: Wie in Deutschland werben die Firmen mit der Wiederverwertung ihres Verpackungsmaterials, aber tatsächlich gilt das offenbar nur für einen Bruchteil des Abfalls. Dells Kommentar wäre ebenfalls ein passender Titel für den Film: "eine große Farce".