Nachdem sie einige Meter im Wald bei Bad Rehburg zurückgelegt haben, beginnen Silke Becker und Annette Schaar-Becker zu singen: "Wechselnde Pfade, Schatten und Licht, alles ist Gnade, fürchte dich nicht." Einige Minuten lang wiederholen sie Melodie und Text, nach kurzer Zeit singen sie im Kanon. Im kommenden Jahr wollen Becker und Schaar-Becker hier mit einer Gruppe singen und entlanggehen - genauer: entlangpilgern.
Die Strecke gehört zum Pilgerweg Loccum-Volkenroda. Die beiden Frauen planen eine acht Kilometer lange Tagestour, die erst auf einem Neben-, dann auf dessen Hauptweg verlaufen soll. Beide sind schon den gesamten Weg gelaufen, danach lernten sie sich bei der Ausbildung zu Pilgerbegleiterinnen kennen.
Im Jahr 1163 waren Zisterzienser aus dem Kloster Volkenroda in Thüringen nach Loccum in Niedersachsen gepilgert, um das Kloster dort als Tochtergründung des Ordens zu errichten. Seit 2005 sorgt die evangelische Landeskirche Hannovers auf dem Weg für offene Kirchen und Herbergen sowie spirituelle Angebote wie das begleitete Pilgern. Rund 3.000 Menschen besorgten sich laut Landeskirche vor Corona jährlich einen Pilgerpass für die Strecke.
Nach gut einem gelaufenen Kilometer entscheiden sich Becker und Schaar-Becker an einer Lichtung, den kommenden Abschnitt als Schweigestrecke auszuprobieren. Sie gehen jetzt mit Abstand zueinander, jede in ihrem eigenen Tempo. Sonnenlicht fällt vom klaren Himmel zwischen die Buchen und Fichten. Vögel zwitschern, die Wanderstiefel der Pilgerbegleiterinnen knirschen auf den kleinen Steinen des Waldwegs. Am Waldrand wollen sie später ihre Gruppe fragen, wie sie die Stille empfunden hat.
Trotz Corona gebe es einen anhaltenden "Pilgerboom", sagt Annette Lehmann, bei der auch Becker und Schaar-Becker die Ausbildung zu Pilgerbegleiterinnen absolviert haben. Der Pilgerpastorin zufolge haben Menschen mit Beginn der Corona-Pandemie zunehmend das Pilgern im Inland und vor der eigenen Haustür entdeckt. Allein durch Niedersachsen führen 16 landeskirchlich anerkannte, größere Pilgerwege. Deutschlandweit bilden Kirchen Pilgerbegleiter aus.
Pilgern und zur Ruhe kommen
Becker und Schaar-Becker sagen, das Pilgern helfe ihnen, zur Ruhe zu kommen. Silke Becker arbeitet als Verwaltungsangestellte im Landkreis Cuxhaven, Annette Schaar-Becker als Schneiderin in Buchholz in der Nordheide. Beide engagieren sich auch ehrenamtlich. "Beim Joggen kam die Seele nicht hinterher", sagt Schaar-Becker. Becker erzählt, als sie von Loccum nach Volkenroda gepilgert sei, habe sie vom ersten Tag an Blasen an den Füßen gehabt - aber auch jeden Morgen das Gefühl, weitergehen zu können und von Gott beschützt zu sein. Beim Begleiten von Pilgerinnen und Pilgern falle es ihr zwar schwerer, "ins Pilgern zu kommen". Aber es sei toll, Menschen dafür zu begeistern.
"So ist das oft beim Ankommen", sagt Annette Schaar-Becker, als Silke Becker und sie das Kloster Loccum erreicht haben. "Die Kirchenglocken läuten im Herzen, nicht in der Weltöffentlichkeit." Beide stimmen noch ein Lied an und beten das Vaterunser. Als Schaar-Becker einen Abschlusssegen spricht, erklingt die Stundenglocke dann doch noch. Ganz weltöffentlich.