epd: Herr Professor Goldt, die Frage, auf welchem Wertesystem Wladimir Putin seine Politik begründet, beschäftigt die Welt seit über 20 Jahren. Auch Sie haben sich damit befasst. Was sind Ihre Erkenntnisse?
Rainer Goldt: Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch hat in ihrem Buch "Secondhand-Zeit" die Erfahrungen der Generation beschrieben, die nach dem Ende der UdSSR voller Euphorie in die 1990er-Jahre eintrat - im naiven Glauben daran, dass Demokratie und soziale Marktwirtschaft quasi aus dem Nichts zu erschaffen wären. Das Ergebnis ist schmerzlich bekannt. Diese wahrgenommene Verbindung zwischen Demokratie und Niedergang eines Staates ist zusammen mit dem klassischen russischen imperialen Denken eine verheerende Verbindung eingegangen. Dazu kamen andere historische Ereignisse.
Welche meinen Sie?
Goldt: Ein Schlüsselerlebnis war sicherlich der Jugoslawien-Krieg. Für Russland bedeutete er ein Menetekel in doppelter Hinsicht: Einerseits war das Land unfähig, dem alten Bündnispartner Serbien wirkungsvoll beizustehen. Vor allem aber lieferte er ein mögliches Szenario für den Zerfall eines Vielvölkerreichs, wie es Russland auch nach dem Ende der Sowjetunion weiter geblieben ist, und deren Schicksal es unbedingt zu verhindern galt, keineswegs nur im Nordkaukasus. Daraus ist in der Folge in Verbindung mit aggressivem Neoimperialismus eine Art Wagenburgdenken entstanden. Der russische Imperialismus im 21. Jahrhundert fußt dabei auf vielfältigen philosophischen und politischen Theorien der vergangenen 150 Jahre - auch und gerade gegenüber der Ukraine.
Hat sich denn Putins Weltbild im Laufe der Jahre gewandelt?
Goldt: Soweit ich das beurteilen kann, war es von Anfang an revisionistisch angelegt, aber es hat sich ungemein radikalisiert. Der erste sichtbare Ausdruck dieser Radikalisierung war sicherlich Putins Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, als er sich energisch gegen die USA und ihr vermeintliches Weltmachtstreben wandte. Parallel dazu nimmt auch die philosophische Unterfütterung in seinen Reden zu, vor allem mit den Ideen von Iwan Iljin.
"Der erste sichtbare Ausdruck dieser Radikalisierung war sicherlich Putins Auftritt auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, als er sich energisch gegen die USA und ihr vermeintliches Weltmachtstreben wandte."
Wer war dieser Iljin?
Goldt: Iwan Iljin ist im 20. Jahrhundert wohl der radikalste Vordenker des russischen Neoimperialismus gewesen. Von Hegel beeinflusst galt er zunächst durchaus als ernsthafter Denker. Noch in den 1920er Jahren schrieb er im deutschen Exil Bücher über den ewigen Widerspruch zwischen Gewaltanwendung und christlichem Glauben. In der Weimarer Republik stellte Iljin dann eine Verbindung zwischen Demokratie und der Auflösung des Staates her. Über ein halbes Jahrhundert später erleben viele Zeitzeugen wie Swetlana Alexijewitschs dieses genauso. Kein Zufall, dass Iljin mit eben diesen Schriften ab 1991 in Russland publizistisch, d.h. für die Allgemeinheit, neu entdeckt wird.
Iljins Ideologie wurde schon als "christlicher Faschismus" bezeichnet. Ist das gerechtfertigt?
Goldt: Zurecht berüchtigt ist sein Aufsatz nach der Machtergreifung Hitlers, in dem er das deutsche Volk dafür lobt, dass es sich auf legitime Weise aus den Fesseln der Demokratie befreit habe. Iljin führte selbst nach dem Krieg noch ein Doppelleben: für die deutschsprachige Leserschaft publizierte er Bücher über russische Volksfrömmigkeit und die Eigenart der russischen Kultur, in russischer Sprache und kleiner Auflage faschistische Kampfschriften unter dem Titel "Unsere Aufgaben". Russland also als Heimat für europäische Konservative nach außen bei gleichzeitiger Militarisierung nach innen - diese Strategie kommt einem unwillkürlich bekannt vor.
"Russland also als Heimat für europäische Konservative nach außen bei gleichzeitiger Militarisierung nach innen - diese Strategie kommt einem unwillkürlich bekannt vor."
Wie kann so eine Ideologie dazu passen, dass Russland immer ein Vielvölker-Reich war?
Goldt: Wir sind es gewohnt, in Europa Faschismus mit der Idee eines ethnisch homogenen Staates zu verbinden. Selbst Iljin als dezidiert orthodoxer Denker hat aber zugleich davon geschrieben, jeder solle auf seine Weise beten. Und auch Putin wird nicht müde, den Islam als Bündnispartner zu bezeichnen. In seinen Reden hebt er seit Jahren auf einen russischen Staat ab, zu dem der Islam als Bestandteil fest dazugehört.
Kann man aus Putins Verehrung für einen solchen Philosophen wie Iljin etwas über den weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine ablesen?
Goldt: Iljins (und durchaus nicht nur seine) Aussagen gegenüber der Ukraine sind von tiefem Chauvinismus durchdrungen. Es ist erschreckend, diese Geringschätzung, ja Verneinung der ukrainischen Kultur zu lesen. Iljin hat auch etwas gesagt, was Putin in seinen Deklarationen und Aufsätzen immer wieder sagt, dass nämlich die Ukraine in ihrem Selbstständigkeitsdrang nur von feindlichen Mächten missbraucht werde, um Russland zu schaden. Jede Art der Unabhängigkeit der Ukraine werde sich deshalb direkt gegen Russland wenden.
"Es ist erschreckend, diese Geringschätzung, ja Verneinung der ukrainischen Kultur zu lesen."
In westlichen Medien wird neben Iwan Iljin oft noch ein zweiter Name genannt, wenn es um Putins ideologische Fundamente geht: Der des radikalen zeitgenössischen Philosophen Alexander Dugin. Was ist davon zu halten, dass der gelegentlich wie eine Art Graue Eminenz dargestellt wird?
Goldt: Ich glaube nicht, dass sein Einfluss auf die Politik Putins sehr groß ist, denn er ist ein viel zu irrlichternder Geist, der eher die intellektuelle Neue Rechte in Europa interessiert. Kerstin Holm hat Dugin einmal einen Polit-Guru genannt. Das ist eine gute Charakterisierung. Seine Gedanken des Eurasismus finden Sie aber dafür bei sehr einflussreichen Netzwerkern aus der politischen Klasse, die sich im Hintergrund halten, etwa dem Politikwissenschaftler Sergej Karaganow.
Die orthodoxe Kirche steht bislang fest an der Seite des russischen Staates. Haben Sie den Eindruck, dass Putins Weltbild bei den Kirchenoberen ebenfalls fest verankert ist?
Goldt: Ja, denn sonst wären diese gar nicht in ihre Positionen gekommen. Wenn der Patriarch von einem metaphysischen Abwehrkampf Russlands spricht, dann ist dies schlicht ein Missbrauch des christlichen Glaubens zu politischen Zwecken, der das Andenken all jener beleidigt, die nach der Oktoberrevolution für eben diesen Glauben starben. Das Konzept der "Symphonia" von Staat und Kirche in der Orthodoxie hat Tradition, vor allem seit Iwan der Schreckliche den Metropoliten Philipp, der sich seinen Untaten nicht beugen wollte, umbringen ließ.
"Wenn der Patriarch von einem metaphysischen Abwehrkampf Russlands spricht, dann ist dies schlicht ein Missbrauch des christlichen Glaubens zu politischen Zwecken."
Ihre Einschätzungen klingen nicht gerade optimistisch. Wie wird es weitergehen mit Russland?
Goldt: Es wird lange dauern, die politischen Diskurse wieder zu entgiften. Zwar gibt es weiterhin eine sehr große und bewundernswerte, weil nicht nur schweigende Minderheit, die diesen Krieg auf das Allerschärfste verurteilt. Aber dass diese Menschen Gehör finden, wird erst möglich sein, wenn in der politischen Elite kardinale Veränderungen eintreten. Insofern bin ich für die nächste Zeit leider pessimistisch. Doch die Geschichte ist voller Volten, manchmal eben auch zum Guten. Eine große Hoffnung ist natürlich die Jugend, die frei von den Erfahrungen der 1990er Jahre ist und die mit Demokratie wirklich Aufbruch verbindet.