Jesus hat kurze Haare und steht in Wollpullover und Jeans vor der Rolltreppe eines Einkaufszentrums, als er seinen Jüngern berichtet, dass er bald sterben wird. Knapp 5.000 Menschen erleben am Mittwochabend auf dem Essener Burgplatz hautnah, wie die 2.000 Jahre alte Passionsgeschichte in völlig neuer Form inszeniert wird: als Live-TV-Event des Privatsenders RTL mit bekannten deutschen Popsongs "im Look von 2022 reloaded" - und so, als würde in unserer heutigen Zeit mitten im Ruhrgebiet geschehen.
Der aufwändige Event mit vielen Fernsehstars sei weder ein Gottesdienst noch ein frommes Märchen, sagt Moderator Thomas Gottschalk. Aber die Passion und Auferstehung Jesu sei mit ihren Botschaften für jeden Menschen wichtig und wahrscheinlich aktueller als jemals zuvor. Essen sei nicht zufällig als Schauplatz für das Fernseh-Experiment moderner Passionsspiele ausgewählt worden: Die "Auferstehung aus den Scherben der Geschichte" sei für die Menschen im Pott nichts Neues.
Während der Aufführung herrscht auf dem Burgplatz eine bewegte Atmosphäre. Beifall brandet auf, wenn Menschen zu Wort kommen, die während der Show ein großes leuchtendes Kreuz durch die City zur Bühne tragen. Die Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion berichten von ihrem Glauben und ihrem Leben. So sagt ein junger Muslim unter Applaus: "Alle Menschen sind Brüder." Ein weiterer Kreuzträger stammt aus Russland, eine Frau aus der Ukraine. Sie sagt mit Blick auf den Krieg in ihrem Land, Jesus stehe für Erlösung und sie hoffe, dass auch das ukrainische Volk Erlösung erleben werde.
Gekommen sind viele aus Neugier, auch wenn sie sonst nichts mit Kirche zu tun haben - und sei es, weil sie mal die TV-Promis live erleben wollen. Eine Frau aus einem Domchor in Münster will "mal eine moderne Interpretation" hören. Eine Gruppe aus einer evangelischen Freikirche ist gekommen, weil die Auferstehung Jesu für sie elementar ist.
Die Darsteller tragen durchgehend Alltagskleidung: Jesus einen hellen Kurzmantel mit Kapuze, Petrus ein rot-schwarz-kariertes Holzfällerhemd. Judas ist ganz in schwarz gekleidet. Die dominante Farbe auf der Bühne ist weiß, die Farbe von Reinheit und Wahrheit. Mit Stoffbahnen umhüllte Stahlträger und die mit Teppichboden ausgelegte große Bühne bieten Platz für die zwölfköpfige Band, einen 25-Personen-Chor, Boxentürme, Kameras und insgesamt 860 Scheinwerfer, die die RTL-Show ins rechte Licht setzen.
Daneben steht eine 36 Quadratmeter große LED-Wand, auf der sieben vorproduzierte Filme mit Songs und modernen Interpretationen der biblischen Passionsgeschichte eingespielt werden. Acht Popsongs werden live von einzelnen Stars des Ensembles auf der Bühne präsentiert, darunter "Hinterm Horizont geht's weiter" von Udo Lindenberg und "Irgendwas bleibt" von Silbermond. Gottschalk führt als Erzähler durch die gut zweistündige Show, "die größte Geschichte aller Zeiten".
Am Aufführungsort begleiten die Kirchen den vom niederländischen Fernsehen inspirierten Live-Event mit einem eigenen Programm und Seelsorgeangeboten im benachbarten Dom und in der evangelischen Marktkirche, beide sind bis Mitternacht geöffnet. Die Einladung direkt von der Bühne dazu kommt vom evangelischen Marktkirchen-Pfarrer Jan Vicari und von seiner katholischen Kollegin Theresa Kohlmeyer. "Möge Gott dich festhalten, wenn du nicht mehr weiter weißt", heißt es in ihrem abschließenden ökumenischen Abendsegen. Darin erinnern sie auch an das Leid in der Ukraine, die Angst vor Krieg und die Sehnsucht nach Normalität angesichts von Corona.
Auch Gottschalk spricht den Krieg an. "Heute stranden wieder Flüchtlinge aus der Ukraine bei uns", sagte der TV-Moderator. Die Menschheit habe in den 2.000 Jahren seit der Kreuzigung Jesu nichts dazugelernt. Am Ende steht der hell gekleidete und angestrahlte Jesus über dem Burgplatz auf dem Dach der Lichtburg, einem historischen Kino, und singt "Halt dich an mir fest" - das Lied der Band Revolverheld.
Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck zeigte sich berührt von der Kombination von moderner Inszenierung und jahrhundertealter Sprache der Bibel. "Die klassische Bibelübersetzung ist wie ein roter Faden der Geschichte, aber gleichzeitig auch eine Provokation", sagte er. Die beiden großen Kirchen begleiteten das Live-Event mit einem eigenen Rahmenprogramm.
In sozialen Netzen war das Event unter dem Hashtag "#DiePassion" bereits während der Übertragung ein intensiv diskutiertes Thema. Es lag bei den Twitter-Trends noch vor "#Steinmeier".