742 Mal ist er schon gesprungen. Jedes Mal ist der Fallschirm aufgegangen. Ganz routiniert muss er an dem Seil ziehen und der bunte Stoff faltet sich wie von selbst über ihm in der Luft auf. Es ist der 743. Sprung. Es fehlen nicht mehr viele. 1.000 Sprünge braucht er, um zu Hause in Polen anderen das Springen, Fallen und Gleiten beizubringen. Extra dafür ist er nach Spanien gefahren. Bei Sevilla gibt es ein Top-Gebiet dafür. Bei ein paar Sprüngen am Tag braucht er nur zwei bis drei Monate weg von seiner Frau und seinem Sohn zu verbringen und kann dann in dem neuen Beruf arbeiten. Es ist sein Plan, nach all den Jahren in der Armee. Sprung 743. Alle 742 Sprünge vorher haben problemlos funktioniert. Er kennt die Handgriffe. Er weiß, was er tun muss. Er hat in den letzten Jahren auch einige Freunde an den Sport verloren, aber nie, weil es Probleme mit dem Schirm gab. Sie wurden unvorsichtig und haben die Landung nicht geschafft. Er ist in der Luft. Zum 743. Mal. Es wird Zeit, den Fallschirm auszulösen. Aber als er an dem Seil zieht, passiert nichts. Er kann es gar nicht glauben. Er dreht sich um und schaut hinter sich, über sich. Da ist nichts. Da fliegt nichts, was ihm vor dem harten Aufprall auf der Erde schützen kann. Aber die Erde unter ihm kommt immer näher.
Kurz muss er nachdenken und sich darauf besinnen, was jetzt zu tun ist. Es gibt immer einen Notfall-Fallschirm. Ein Notseil, was man ziehen kann. Es ist das erste Mal, dass er daran ziehen muss. Er zieht an dem Seil. Eine ungewohnte Bewegung.
Und dann, das gewohnte, rettende Geräusch. Der Notfallschirm öffnet sich. Der Sack, in dem das Notfallpaket gesteckt hat, fliegt weg. Er wird es nach der Landung suchen müssen. Es wird in einem hohen Baum landen und er wird 70 Euro bezahlen, um es herunterholen zu lassen. Er wird sich ärgern, aber es ist ein geringer Preis, den er gezahlt hat. Abends wird er zu viel Whisky-Cola trinken und sich am nächsten Tag nicht ganz fit fühlen. Aber er wird wieder aufstehen, wieder seinen Fallschirm nehmen und den 744. Sprung wagen. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Ob es am 743. Sprung liegt oder am Alkohol vom gestrigen Abend, weiß er nicht. Wahrscheinlich liegt es an beidem. Beim 744. Sprung ist alles so wie immer. Aber der Absprung war schwerer als zuvor. Auch wenn nochmal alles Mal gut gegangen ist, plötzlich merkt man, wie schnell alles aus und vorbei sein kann. Auch nach viel Routine kann man ins Straucheln geraten. Man muss selbst entscheiden, ob es das 744. Mal geben wird. Darauf kommt es an.
Das alles erzählt uns Darek abends beim Lagerfeuer in gebrochenem Englisch auf einem kleinen Campingplatz bei Sevilla. Wir sind mehr oder weniger Stellplatz-Nachbar:innen. Eine kleine, junge Familie aus Slowenien hat uns ans Lagerfeuer eingeladen. Wir wollten uns eigentlich nur kurz dazusetzen. Der Tag davor war anstrengend. Eigentlich waren die Tage davor anstrengend. Bevor wir auf dem Platz eingecheckt haben, haben wir ernsthaft darüber nachgedacht, einfach umzudrehen und nicht mehr die Grenze nach Portugal zu überqueren. Wir bleiben bis nachts um zwei Uhr am Lagerfeuer sitzen und sprechen über das Leben auf Reisen, Fallschirmspringen, Slowenien, Aufgeben und Weitermachen.
Mit viel neuer Energie und sehr viel guter Laune fahren wir am nächsten Tag nach Portugal. Sich mit anderen Menschen auszutauschen, hat uns viel Kraft geschenkt. Dareks Erlebnisse in der Luft mit seinem Fallschirm hat mich noch eine ganze Weile beschäftigt. Es kommt nicht darauf an, ob man irgendwann fällt, stolpert oder nicht mehr weiterweiß. Egal, ob es der zweite, dritte oder siebenhundertdreiundvierzigste Schritt ist. Auch wenn es sich gruselig anfühlt und man manchmal ein mulmiges Gefühl im Bauch hat. Weitergehen und Durchziehen muss auch gar nicht die Lösung und der beste Weg sein, dass wäre ja Denken im Leistungsprinzip. Viel mehr zu akzeptieren, dass es manchmal holprig ist und auch mal was schief gehen kann, wenn man etwas schon 743 Mal gemacht hat. Deshalb muss man aber nicht aufhören, an sich und das, was man tut, zu glauben. Das ist auch Ostern.
Mittlerweile sind fast zwei Wochen vergangen und unsere Zeit in Portugal nähert sich dem Ende. Wie gut, dass wir damals in Sevilla entschieden haben, dass wir weitermachen und nach Portugal fahren. Es ist Ostersonntag. Ich sitze im Café des schönsten Campingplatzes, den ich mir erträumen könnte und trinke meinen Klischee-Hafer-Cappuccino. Am Nachbartisch basteln Kinder Osterhasen und malen Osterbilder aus. Draußen ruft ein Kind: „Mama, der Osterhase war da!“. Auch wenn es draußen regnet und unser undichtes Zelt heute und gestern Nacht nur ganz knapp nicht zum U-Boot geworden ist, werde ich heute mit guter Laune ins Auto steigen.
Wir waren nur elf Tage in Portugal und konnten nur einen kleinen Bruchteil des Landes erkunden. Unsere Top-Tipps für Portugal aus der Zeit sind trotzdem:
Die größte erhaltene Bollwerk-Festung der Welt: Elvas
Die Festung von Elvas ist vor allem aus der Vogelperspektive begeisternd. Wie ein Mandala ist die komplett begehbare Festung aus dem 18. Jahrhundert in den Berg vor die Grenzstadt gebaut worden. Da man fast alle Gänge, Bauwerke, Mauern und Treppen erkunden kann, ist es gut möglich einen Eindruck zu gewinnen, wie Elvas durch die Festung taktisch verteidigt werden konnte. Der Eintritt ist sehr günstig. Leider sind die Hinweisschilder nicht immer gut verständlich ins Englische übersetzt worden.
Seit 2012 ist Elvas ein Weltkulturerbe. Neben der Festung gibt es in der Stadt auch noch eine Burg, eine weitere Festung und ein beeindruckendes Aquädukt. Es lohnt sich also die ganze Garnisonsstadt zu besichtigen.
Real-Life-Dystopie: Mina de Sao Domingos
Auf der Suche nach verlorenen und verlassenen Orten haben wir ein Bergwerk gefunden. Hier wurde mal Schwefel, Kupfer, Gold, Silber und Zink abgebaut. Das unwirkliche Gelände sieht an vielen Stellen so aus, als wäre es nicht von dieser Welt. Das besondere bei dieser Mine ist: Sie ist weitgehend öffentlich und kostenlos begehbar. Außerdem ist sie mit Informationsschildern und Straßen ausgestattet. Der vordere Teil hat einen See und verfallene Industriegebäude. Noch spannender wird es, wenn man zu den Verarbeitungsstationen außerhalb des Ortes fährt, das geht auch mit dem Auto. An den Seen und Wasseransammlungen stehen Warnschilder vor giftigem Wasser und auch die Luft ist manchmal schwer zu atmen, weil das Wasser immer noch die Schlacke auswäscht und die gesamte Natur in der Umgebung stark belastet. Genutzt wurde das Land zum Abbau von Erzen schon vom Römischen Reich. Wer mal in eine dystopische Landschaft abtauchen will, sollte die Mine unbedingt besuchen.
Panorama Weg: Passadiços do Mondego
Im Geopark Estrala, nah an der Grenze zu Spanien, gibt es einen gut ausgebauten Panoramaweg. Mit Hängebrücken, Holzwegen, Waldwegen und Sicht auf Berge, verlassene Mühlen und Webereien, immer am Fluss Mondego entlang. Durch die Informationsschilder kann man sich mit der Geschichte der Region auseinandersetzen. Auf dem Weg gibt es mehrere Toiletten und sogar W-Lan-Stationen. Wir sind in Videmonte gestartet und nur die Hälfte der Strecke gelaufen, weil uns an dem Tag 12 Kilometer gereicht haben. Der Mondego entspringt im Estrala Gebirge und mündet bei Figueira da Foz im Atlantik.
Der Eintritt ist ein symbolischer Euro, der vor Ort oder Online im Voraus gezahlt werden kann.
Die höchsten Wellen der Welt: Nazaré
An der Stadt, die eine lange Fischerei-Tradition prägt, ragt die Landspitze Sítio 318 Meter in den Atlantik. Von den weißen Häusern unten an sichelförmigen Strand aus kann man entweder mit der Kabelbahn oder zu Fuß die Klippe erreichen. Die Wellen von Nazaré sind weltbekannt. Surfer:innen kommen von überall her um die gigantischen Wellen nicht zu verpassen und einige mit der Hoffnung neue Rekorde aufzustellen. Hier wurde 2011 der Weltrekord für die größte gesurfte Welle auf sandigem Untergrund gemacht. Die Welle war etwa 30 Meter hoch. Durch ein geomorphologisches Unterwasserphänomen bilden sich in der größten Unterwasserschlucht Europas (bis zu 5.000 Meter Tiefe) gigantische Wasserwände, die am Sandstrand und den Felsen brechen. Aber Achtung: Auf der Landspitze und in der Stadt kann es schnell voll werden, Nazaré zieht viele Tourist:innen an. Wir würden deshalb empfehlen, nicht in den Stoßzeiten in der Küstenstadt vorbeizukommen.
Renaturierung und Permakultur: Monte Cruz
Ein paar schöne Tage durften wir bei Tosca auf der Farm verbringen. Unser Zelt haben wir auf einer der vielen Terrassen aufgeschlagen, die hier angelegt wurden, um das Wasser gut zu nutzen und zu leiten. Das Land ist mittlerweile zu einem Stück Paradies geworden. Die beiden Hunde Luna und Idefix haben uns begrüßt und wir haben vom Monte Cruz aus, die Landschaft erkundet oder auf dem Grundstück die Sonne und den Frühling genossen. Wer Toscas Projekt interessiert oder Baumpat:in werden will, kann bei ihr vorbeischauen: https://www.montecruz-portugal.net/
Unsere liebsten Campingplätze in Portugal:
Meistens waren wir nicht länger als eine Nacht auf einem Campingplatz. Wir haben also unterschiedlichste Eindrücke gesammelt. Wir sind in dieser Hinsicht sehr genügsam, wenn das Wasser aus dem Hahn kommt und wir irgendwo genug Platz für ein Zelt haben, sind wir eigentlich glücklich. Bei keinem Campingplatz waren wir wirklich unzufrieden, angeekelt oder genervt. Diese beiden haben aber unser Herz gestohlen, weil sie einfach besonders gut waren und uns wirklich nachhaltig überzeugt haben. Die Menschen vor Ort, laden sie mit ihren Charakteren auf und versuchen spürbar einen positiven Ort schaffen. Deswegen möchte ich sie gerne weiterempfehlen:
Camping Puro Alentejo
In der Nähe der Festungsstadt Elvas befindet sich der Campingplatz Puro Alentejo. Vor allem bei der Reise mit Zelt ist der Campingplatz ein Traum. Kein großes Kiesfeld mit Platz neben Platz, sondern ein kleiner Kreis umgeben von Bäumen: Privatsphäre pur. Natürlich gibt es auch reguläre Plätze für Wohnwagen, Camper und Vans. Generell aber. Alles sauber, alles neu und modern, viel Wiese, viel Schafe. Man hat nicht das Gefühl auf einem kommerziellen Campingplatz zu stehen, sondern eher bei einer Farm auf dem Feld die eigene Zeit zu verbringen.
Camping O Tamanco
Wenn ich mir einen Campingplatz erträumen würde, wäre es dieser. Alles ist grün, die Unterkünfte und Gemeinschaftsräume sind frisch renoviert, aber übersteigen alle Vorstellungen was Inneneinrichtung und Geschmack angeht. Um das Bild genauer zu beschreiben: Ein Waschraum mit rosa Fliesen, in Salbei angestrichene Klotüren, ein Ganzkörperspiegel und Wasserhähne im Messinglook. Ich weiß das ist den meisten komplett egal, aber für mich macht es den Unterschied. Samstags gibt es Pizza-Nacht, vormittags gibt es Kaffee in der Cafeteria (mit Hafermilch), der Plan vom Campingplatz ist kein zusammengewürfeltes Clip-Art Chaos, sondern ein aquarelliertes Kunstwerk. Um 9 Uhr morgens kommt ein Wagen vom Bäcker und verkauft seine Backwaren - zugegeben, den haben wir verpasst. Insgesamt ist O Tamanco genau das bisschen mehr. Das i-Tüpfelchen unter den Campingplätzen. Nicht das, was man braucht, um eine gute Zeit zu haben, aber begeistert hat es mich trotzdem.