Nach monatelanger Suche hat der Windsbacher Knabenchor einen neuen Leiter gefunden: Ludwig Böhme wird zum 1. September die künstlerische Leitung des international renommierten Chors übernehmen. Er folgt auf Martin Lehmann, der im August nach zehn Jahren im Amt als Kreuzkantor nach Dresden wechselt. Insgesamt hatten sich 25 Personen für den Job beim Knabenchor der bayerischen Landeskirche beworben.
epd: Herr Böhme, Glückwunsch zur neuen Aufgabe in Windsbach! Sie sind Sachse, Thomaner, Ihr Vater Ullrich Böhme war von 1986 bis 2021 Organist in der Leipziger Thomaskirche. Was war eigentlich Ihr erster Kontakt mit den Windsbachern?
Ludwig Böhme: Die Windsbacher kennt man natürlich, wenn man in der Knabenchor-Landschaft zu Hause ist! Ich muss allerdings gestehen: An ein konkretes Konzerterlebnis kann ich mich jetzt nicht erinnern. Wieder auf die Windsbacher aufmerksam geworden bin ich, als diese Personalrochaden bei den großen Knabenchören losgingen, und dann dachte ich mir, jetzt wirfst du deinen Namen in den Ring und bewirbst dich. Seitdem habe ich mich sehr intensiv mit dem Chor auseinandergesetzt, und ich glaube, dass wir uns gegenseitig in der Probenwoche schon ein Stück weit angefreundet haben.
Sie sprechen das Bewerbungsverfahren an: Wie ist das gelaufen?
Böhme: Verglichen mit anderen Bewerbungsverfahren - also: Man schreibt eine gute Bewerbungsmappe, schickt sie hin, macht dann ein Bewerbungsgespräch, und dann kriegt man ein Okay oder eben nicht - läuft das bei so einem Chor wie den Windsbachern schon unglaublich viel intensiver ab. Es gab ein Bewerbungsgespräch, schon kurz vor Weihnachten. Aus Pandemiegründen war das per Zoom mit der relativ großen Kommission zusammengeschaltet. Dann ging es aber erst richtig los: mit einer Probenwoche, die von jeder Bewerberin und von jedem Bewerber viel abverlangt, eine sehr intensive Vorbereitung erfordert und eine große Menge Eindrücke hinterlässt. Es ging nicht nur darum, mit dem Chor zu arbeiten, es gab Gespräche mit allen Gremien, mit allen Vertretern, mit dem Konzertmanagement, mit den pädagogischen Mitarbeitern, mit den musikalischen Mitarbeitern, mit dem Elternbeirat, mit dem Internatsdirektor, mit der Schuldirektorin.
Sie haben zuletzt mit eher kleineren Chören gearbeitet. Nun kehren Sie in einem der großen deutschen Knabenchöre gewissermaßen zu Ihren Anfängen zurück...
Böhme: Also, ich muss sagen, ich fühle mich als Leiter eines solchen Knabenchores menschlich und musikalisch zu Hause! Menschlich, weil ich es wirklich nachempfinden kann, weil ich erlebt habe, was es bedeutet, im Knabenchor groß zu werden und diese ganzen Herausforderungen, Erfahrungen, Chancen und Glücksmomente selbst erfahren habe. Musikalisch fühle ich mich zu Hause, weil der Chor in der protestantischen Tradition beheimatet ist mit der Musik von Johann Hermann Schein, Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Mendelssohn, Max Reger, Hugo Distler - das geht quer durch die Jahrhunderte. Genau das ist meine musikalische Heimat.
Welche musikalischen Akzente wollen und werden Sie mit den Windsbachern setzen?
"Ich finde, dass die protestantisch geprägte Knabenchor-Tradition etwas ganz Besonderes ist - und dass die auf jeden Fall bewahrt werden muss!"
Böhme: Konkrete Projekte kann ich jetzt natürlich noch keine benennen. Ich finde aber, dass die protestantisch geprägte Knabenchor-Tradition etwas ganz Besonderes ist - und dass die auf jeden Fall bewahrt werden muss! Das heißt: Ich möchte nicht, dass der Windsbacher Knabenchor ein austauschbarer Chor wird, der sich auf jeden Trend sofort einlässt. Die Substanz, dieses Kulturgut, das über die genannten Komponisten zur Verfügung steht, kann man im Knabenchor authentisch aufführen.
Von da ausgehend muss man aber auch über den Tellerrand hinausschauen und den Horizont erweitern. Das kann zum Beispiel durch das Knabenchor-Repertoire anderer Länder sein, beispielsweise England. Das kann durch Crossover-Projekte im Austausch mit anderen Musikerinnen und Musikern passieren. Und - das ist mir ganz wichtig - natürlich muss ein so wichtiges Ensemble die Musikszene auch aktiv mit weiterentwickeln. Ich möchte, dass für den Windsbacher Knabenchor komponiert wird, möchte, dass Uraufführungen stattfinden und dass die Windsbacher in der Vokalszene des 21. Jahrhunderts ihren Platz einnehmen. Das ist ja im Rahmen des Jubiläums zum 75-jährigen Bestehen des Chors gerade schon ein Stück weit passiert.
Jetzt kommen Sie als Leipziger aus der Metropole ins eher ländliche Franken. Wie werden Sie damit zurechtkommen?
Böhme: Also, es wird auf jeden Fall ein Stück ruhiger (lacht) - zumindest rein akustisch. Das Leben wird natürlich keineswegs ruhiger, aber die Gegend ist ruhig und schön, und natürlich haben sowohl meine Familie als auch ich selbst uns damit ausführlich auseinandergesetzt. Wissen Sie, ich lebe seit 1986 in Leipzig, bin dort eingeschult worden und kenne diese Stadt seit mehreren Jahrzehnten. Jetzt etwas Neues zu wagen, raus aus der Großstadt in eine ländliche Region, das fühlt sich für uns momentan wie ein großer Gewinn an. Ich freue mich auf die Wälder, auf die Seen, auf die Kleinstadt und denke, dass der Chor, mit allem, was dazugehört, so erfüllend ist, dass wir uns dort wohlfühlen. Ich hoffe, dass wir gut aufgenommen werden, dass wir auch als Familie Anschluss finden.
Sie haben zuletzt auch den traditionsreichen Leipziger Synagogalchor geleitet. Inwiefern wird diese Tradition in Ihre künftige Arbeit einfließen?
"Ich will auch künftig dazu beitragen, dass jüdisch geprägte Musik unsere Gesellschaft bereichert. Das ist ja eine Gottesdienst-Musik."
Böhme: Aus historischen Gründen ist der Leipziger Synagogalchor ein Konzertchor, in dem keine Juden singen. Das Thema der jüdischen Musik war nicht mein Spezialgebiet, als ich den Chor vor zehn Jahren übernommen habe, es ging um meine chorleiterischen Fähigkeiten. Ich habe mir die Welt der jüdischen Musik für den Synagogalchor erst erschlossen - eine unglaubliche Bereicherung. Und ich will auch künftig dazu beitragen, dass jüdisch geprägte Musik unsere Gesellschaft bereichert. Das ist ja eine Gottesdienst-Musik. Wenn Johann Sebastian Bach seine Kantaten für den lutherischen Gottesdienst geschrieben hat, dann hat Louis Lewandowski seine Musik für den jüdischen Gottesdienst geschrieben.
Bach-Kantaten sind allgemeingültige Kunstwerke, die heute überall aufgeführt werden: auf Konzertbühnen, in Kirchen, Open-Air, wo auch immer. Warum soll das mit jüdischer Musik anders sein! Die Psalmen singen wir in Lateinisch, in Deutsch, in Englisch, warum nicht auch in Hebräisch, ihrer ursprünglichen Sprache? Dass es da in Nürnberg viele Initiativen und auch eine lebendige Erinnerungskultur gibt, das ist mir nicht verborgen geblieben.
Die Jugendlichen im Knabenchor, so hört man, lauschen nicht nur den ganzen Tag Schütz und alte Musik. Können Sie selbst mit Hip-Hop und anderer zeitgenössischer Musik etwas anfangen?
Böhme: Da müssen wir natürlich dran arbeiten, dass die Jungs nur Schütz und Bach hören! (lacht) Nein, natürlich nicht! Wenn Sie damit meinen Musikgeschmack aus mir herauskitzeln wollen: Sting finde ich schon über viele Jahre ganz fantastisch. Ich bin großer Leonard-Cohen-Fan, ich mag Depeche Mode, Queen, die Beatles. Also: In dieser Welt kenne ich mich auch ein bisschen aus.
Sprung zurück: 2022 ist ja Heinrich-Schütz-Jahr. Darf man dazu noch etwas erwarten?
Böhme: Es gibt ja ganz viel an Planungen, die schon gelaufen sind. Der genaue programmatische Einfluss wird sich erst im kommenden Jahr zeigen. Ansonsten muss man jetzt erstmal den Laden am Laufen halten, reinwachsen und dann werde ich Akzente setzen. Wir schauen natürlich in Richtung Weihnachten: Eine Tournee mit dem Weihnachtsoratorium nach Spanien steht bevor, und was wir dann bis dahin im Oktober machen, das muss ich jetzt alles natürlich noch kennenlernen.
Zum Leipziger Bachfest 2023 wird es eine Konzertreihe mit vier Knabenchor-Konzerten geben. Da wird der Thomanerchor ein A-Capella-Konzert singen, der Dresdner Kreuzchor, die Windsbacher und der Knabenchor Hannover - alle mit einem ähnlichen Programm: Schütz, Schein, Mendelssohn, Bach - unterschiedliche Stücke aufgeteilt auf die Knabenchöre. Das ist etwas, das ich auf jeden Fall sehr ernst nehme, wenn ich wieder in meine alte Heimat komme.
Sie und Ihre Frau Katja ziehen in Windsbach ins Chorleiterhaus. Ihre Tochter ist 14, ihr Sohn fast 17. Kein ganz leichter Sprung für Jugendliche...
Böhme: Offiziell geht es am 1. September los. Weil die bayerischen Ferien ja noch bis in den September hineingehen, werden wir Mitte September mit den Proben beginnen. Irgendwann im August ziehen wir um. Unsere Tochter kommt auf jeden Fall mit, und wir müssen natürlich noch ein bisschen gucken, wie wir das für sie regeln. Ihre Leidenschaft ist nicht die Musik, sondern der Sport. Sie ist sehr aktiv in einem Hockey-Verein, und da versuchen wir gerade in Nürnberg Verbindungen zu knüpfen.
Unser Großer ist in der 11. Klasse und macht nächstes Jahr Abitur. Da ist die große Frage, ob wir ihn für dieses eine Jahr tatsächlich mitnehmen oder ob er dieses Jahr noch in Leipzig verbringt. Das ist familiär noch die größte Herausforderung, hier eine Lösung zu finden, mit der alle auch zufrieden und glücklich sind. Diese Fragen sind für einen Jugendlichen ja keine Kleinigkeiten, und wir suchen da noch nach der richtigen, überzeugenden Lösung.