epd: Frau Richter, worin unterscheidet sich die jetzige Hilfs- und Aufnahmebereitschaft in Deutschland von der anderer Jahre?
Carola Richter: Diejenigen Menschen, die helfen wollen, tun das sicherlich aus den gleichen Gründen, wie diejenigen 2015: sie sind entsetzt von dem, was in den Heimatländern der Geflüchteten geschieht, haben Mitleid und Empathie mit den Betroffenen. Was anders ist, ist die diskursive Rahmung. Die Ukraine wird in den Medien und politischen Diskursen als modernes, europäisches Land dargestellt. Menschen aus islamisch geprägten Ländern oder Subsahara-Afrika dagegen wurden über Jahrzehnte hinweg als kulturell fern und mit häufig nicht-kompatiblen Werten dargestellt. Außerdem spielt die Einschätzung einer Bedrohungslage eine Rolle: Schon 2015 gab es einen Unterschied bei der Bewertung der Rechtmäßigkeit der Flucht, ob jemand aus Syrien kam und unmittelbar von einem brutalen Regime verfolgt wurde oder aus Afghanistan, Irak, Nigeria und damit 'nur' ein 'Wirtschaftsflüchtling' war.
epd: Wie wirkt sich die Herkunft der Flüchtenden auf die Reaktion der Aufnahmeländer aus?
Richter: Das Kriterium der Herkunft der Geflüchteten spielt in der politischen Bewertung offensichtlich eine große Rolle. In Polen gab es in der Zivilbevölkerung große Hilfsbereitschaft, als auf belarussischer Seite einige hundert Geflüchtete über die Grenze nach Polen wollten. Die Regierung hat aber einen radikalen Kurs der Ablehnung gefahren. Nun aber, bei der Betroffenheit der als 'Brudervolk' angesehenen Ukrainer, lässt sich diese Abwehr nicht mehr aufrechterhalten.
epd: Wie lange wird die Bereitschaft zu helfen andauern?
Richter: Vermutlich wird die akute Kriegssituation recht bald durch Verhandlungen und eine instabile Lage abgelöst, weshalb die massenhafte Flucht wohl abschwellen wird. Generell wird in diesen Phasen der akuten Nothilfe immer davon ausgegangen, dass der Zustand der Flucht kein Dauerzustand sein wird. Wenn der Fluchtzustand zum Dauerzustand würde, dann könnte auch in Deutschland die Hilfsbereitschaft sinken und xenophobe Äußerungen könnten stärker werden.