Es ist Tag acht des Ukraine-Konfliktes. Der letzte von insgesamt fünf Eurocity-Zügen aus Warschau ist an diesem Abend noch nicht auf Gleis 14 eingelaufen. Hier am Berliner Hauptbahnhof kommen auch die meisten Züge aus Frankfurt an der Oder an, direkt von der polnischen Grenze.
Am Ende der Treppe zum Bahnsteig steht ein junger Mann mit Warnweste. Neben ihm ein Aufsteller mit den Farben der Ukraine: gelb-blau und ein Pfeil. Der Pfeil weist ins erste Untergeschoss des weitläufigen Bahnhofs unweit des Kanzleramts. Dort, am "Infopunkt" für Geflüchtete aus der Ukraine, herrscht ein geregeltes Chaos. Viele Helfer, die sich in vielen Sprachen um ratlose Reisende kümmern. Es gibt zwei Schlangen, eine für Weiterreisende, eine andere für Menschen, die in Berlin bleiben wollen. Um die Ecke geht es zur "Bettenbörse" in eine Nebenhalle.
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) steht zusammen mit Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) vor einer Wand von geschätzt mindestens 50 Menschen - Frauen, Männer, selbst Kinder sind hier. Sie halten Schilder in die Luft: "Unterkunft für Mutter mit zwei Kindern" oder "1 Person, 12 Weeks". Es ist nach 19 Uhr, Donnerstagabend.
Die "Bettenbörse" hat etwas von einer Auktion. Während die beiden Politikerinnen versuchen, mit den hilfsbereiten Menschen ins Gespräch zu kommen, sucht ein Mann mit einem Megafon lautstark den passenden Schlafplatz für zwei Frauen, "vermutlich für drei Nächte". Sofort heben sich ein paar Arme und rufen "hier".
Bürgermeisterin freut sich über Hilfsbereitschaft
Giffey und Kipping sind überwältigt von dem Engagement und der Hilfsbereitschaft, wie sie sagen. Bislang hat die Senatssozialverwaltung zwei Hauptamtliche für den Bahnhof abgestellt. Sie sind für die Koordination der Hilfen, den BVG-Transfer zum Ankunftszentrum für Geflüchtete, die Absprachen zwischen den zahlreichen Ehrenamtlichen, Deutscher Bahn, der Berliner Stadtmission und dem Deutschen Roten Kreuz verantwortlich. Martin Glasenapp macht den Job seit Montag: "Wir sorgen dafür, dass niemand auf der Straße steht."
Dafür sorgt auch die Berliner Stadtmission. In einem ehemaligen Hotel im Stadtteil Friedrichshain am Comeniusplatz tummeln sich knapp 300 Menschen aus der Ukraine. Darunter viele Menschen aus anderen Erdteilen stammend, die meist schon mehrere Jahre in Kiew, Charkiw und anderen Städten gelebt und gearbeitet haben.
Vortritt für Ukrainer bei Evakuierungszügen
Emanuel, 57, aus Angola stammend und seit 1993 in der Ukraine, steht vor dem einstigen Hotel und fragt nach Feuer. Er ist vor drei Tagen mit dem Zug in Berlin angekommen, samt Frau und vierjähriger Tochter. Zuvor habe er vier Tage in Kiew auf dem Bahnhof ausharren müssen, weil ukrainische Staatsbürger den Vortritt in die Evakuierungszüge bekamen. Während er raucht, kommen Giffey und Kipping zu ihrer zweiten Station an diesem Abend.
Die halbe Lobby steht voll mit großen blauen Kisten in Regalen. Darin: Babywindeln, Kleider, Schuhe und vieles andere. Alles sauber beschriftet. Auf einem improvisierten Tresen erfolgt die Zimmereinteilung, werden Corona-Testergebnisse notiert. Vier Zimmer sind noch frei, heißt es. Daneben ein Tischchen mit Zahnpasta-Tuben, Haarshampoo, Salben.
Im Speisesaal herrscht ein Kommen und Gehen. Die beiden Politikerinnen und ihr Anhang fallen nicht weiter auf. Sarah Kremer steht hinter der Essensausgabe. Es gibt unter anderem vegetarische Nudelsuppe und Rindfleisch mit Bohnen. Die 33-jährige Projektmanagerin arbeitet hier wie viele andere ehrenamtlich an ihrem freien Abend. Ein Kollege von ihr mischt sich ins Gespräch: "Wenn Dosen gespendet werden, dann bitte möglichst vegetarisch", wegen des Schweinefleischs, das nicht alle essen würden.
Ulrike Hinrichs lobt die unkomplizierte Zusammenarbeit mit der Senatssozialverwaltung. Sie sitzt mit Giffey an einem Tisch. Innerhalb eines Tages sei die geplante Kältehilfe-Einrichtung mit Quarantänestation umgewidmet worden. Am Dienstag wurde das Haus als Flüchtlingshotel eröffnet. Hinrichs ist Geschäftsführerin des Unionhilfswerks, das zusammen mit der Berliner Stadtmission die Einrichtung führt. Der Eigentümer, die Primus Immobilien AG, hat das Gebäude nach eigenen Angaben bis Ende August mietfrei überlassen.
Als die Abordnung des Senats vom Flüchtlingshotel aus sich auf den Heimweg macht, steht Stefan Ursul noch am zugigen Nord-Eingang des Hauptbahnhofs. Auch Ursul, ehemaliger Polizist, jetzt Student, trägt eine Warnweste. Darauf steht: deutsch, englisch und russisch. Er wartet auf weitere Ankömmlinge an diesem Abend.