Frau Borchers, Geduld wird niemandem in die Wiege gelegt. Ab wann können Kinder überhaupt geduldig sein?
Gabriele Borchers: Je kleiner die Kinder sind, desto weniger ist Geduld da. Babys und Kleinstkinder müssen auch nicht geduldig sein, da geht es letztlich ja um unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Wenn die existenziellen Dinge verlässlich befriedigt werden, können Kinder später gut Geduld erlernen, so ab dem zweiten, dritten Lebensjahr. Dabei gilt: Je sicherer sie gebunden sind, desto einfacher fällt es ihnen später, geduldig zu sein. Das erfordert eine gewisse Frustrationstoleranz, die in unserer Gesellschaft ja auch nicht immer so da ist.
Geduld lässt sich also trainieren?
Borchers: Ja, und dabei spielen die Eltern als Vorbilder eine wichtige Rolle. Je geduldiger sie sind, desto besser können sie diese Eigenschaft auch vermitteln. Das Warten fällt natürlich leichter, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass am Ende etwas Gutes dabei herauskommt. Wenn man sich verlässlich auf etwas freuen kann.
Haben Sie ein Beispiel?
Borchers: Die Mutter oder der Vater telefoniert und das Kind wittert, dass es jetzt die Chance auf Süßigkeiten oder länger Fernsehen gibt. Es stört das Telefonat, was natürlich Stress bedeutet. Dann ginge es darum, dem Kind zu erklären, dass ich jetzt telefonieren will und danach Zeit habe. Das Kind hat also eine vorhersehbare Zeit, die es geduldig sein muss. Das klappt nicht beim ersten Mal, sondern muss von Eltern im besten Fall ruhig, konsequent und immer wieder so geregelt werden, damit das Kind lernt: Da habe ich jetzt gerade keine Chance. Und die Verabredung ist, dass Mama, Papa Zeit hat für mich, aber erstmal in Ruhe telefonieren möchte.
Allgemein gesagt: Beim Trainieren geht es in kleinen alltäglichen Dingen immer darum, dass das Kind einen klaren Ablauf sieht und die verlässliche Erfahrung macht, dass es dann zu seinem Recht kommt. Diese Perspektive sollte möglichst konkret sein, also nicht mit weichen Begriffen wie "gleich" oder "später" verbunden werden.
Gerade die Zeit bis zur Bescherung an Heiligabend ist für viele Kinder eine anstrengende Geduldsprobe. Was raten Sie, um die Situation zu entspannen?
Borchers: Heiligabend bis zur Bescherung warten, das können Kinder natürlich nur, wenn sie eine schöne Idee dazu haben. Und wenn sie auch sonst im Alltag schon mal auf irgendetwas gewartet haben. Denn wenn ansonsten alles sofort da ist, dann ist für ein Kind überhaupt nicht nachvollziehbar, warum es an Weihnachten warten soll. Vor allem, wenn es dann noch darum geht, dass Kinder das alleine hinkriegen sollen.
Je jünger die Kinder sind, desto mehr Hilfe brauchen sie beim Überbrücken von Wartezeiten. Da könnte beispielsweise etwas vorgelesen oder ein Märchen gehört werden. Einen Spaziergang machen, ein Bild malen, nachmittags in den Familiengottesdienst gehen, Baumschmuck basteln - das sind alles Ideen, die helfen können. Und wenn daraus Rituale werden, um so besser. Rituale tun gut, besonders in unruhigen und ungewissen Zeiten, wie wir sie im Moment erleben. Uns wird ja gerade in besonderer Weise Geduld abgerungen, viele Menschen merken, dass sie an Grenzen stoßen. Rituale sind Festhaltepunkte im Leben, jetzt besonders.
Studien sagen: Wer als Kind gelernt hat, geduldig zu sein, der ist später im Erwachsenenleben erfolgreicher. Was denken Sie, stimmt das?
Borchers: Wer geduldig ist, wer langfristig ein Ziel verfolgen kann, wer sich nicht von Rückschlägen aus der Bahn werfen lässt, der ist auch erfolgreicher. Ich glaube, dass Geduld und Beharrlichkeit Tugenden sind, auch wenn das ein etwas altmodischer Begriff ist. Alles jetzt und sofort haben zu wollen, das stresst, das ist nicht gesund. Beharrlichkeit hilft, Sachen zu erlernen - und dann auch stolz auf etwas zu sein, das ich geschafft habe und das seine Zeit gedauert hat.