Die Nadel schwebt nur noch Zentimeter über dem Arm, als Ronald "Stopp!" ruft. Der philippinische Seemann will sichergehen, dass sein Kollege die Impfung auch garantiert mit dem Handy filmt. Dann endlich darf Kristina Jung zustechen. Pflaster drauf, und Ronald ist geimpft. Sein Lächeln ist auch unter der Corona-Maske zu erkennen. Stolz wedelt er mit seinem gelben Impfbuch in die Kamera: Das Video wird er noch heute um die halbe Welt nach Hause an die Familie schicken.
Kristina Jung ist mit einem Impf-Team samt Ärzten vom Roten Kreuz und Leuten der Bremer Seemannsmission an Bord des 200 Meter langen Erzfrachters "Brilliant Journey", der seine Fracht aus Mauretanien im Hafen des Bremer Stahlkonzerns "Arcelor-Mittal" entlädt. Zur Crew zählen 20 Männer, die sich begeistert impfen lassen. Denn eine Impfung bedeutet Bewegungsfreiheit, Landgänge und am wichtigsten - eine leichtere Reise nach Hause zur Familie.
"Von den rund 1,2 Millionen Seemännern und Seefrauen weltweit sind nur die allerwenigsten gegen Corona geimpft", sagt der Leiter der Bremer Seemannsmission, Diakon Magnus Deppe. Experten schätzten ihren Anteil auf gerade einmal 2,5 Prozent. "Darum werden sie auch die Vergessenen der Pandemie genannt."
Die Impfungen sind begehrt
"Weil Kapitäne, Reeder und auch viele Staaten Angst vor Ansteckungen haben, haben viele Seeleute ihr Schiff seit vielen Monaten und manche seit mehr als einem Jahr nicht mehr verlassen", weiß Deppe. Zu groß ist die Gefahr, dass auf hoher See die komplette Mannschaft erkrankt und ausfällt, ohne das Hilfe herbeigerufen werden kann.
Aufgrund der immer kürzeren Liegezeiten der Schiffe in den Häfen ist Zeit knapp an Bord - Freizeit wird dann besonders wertvoll. "Wir hier in Bremen sind die einzigen, die auf den Schiffen impfen", berichtet Deppe stolz. Da geht keine Zeit verloren für die Fahrt zum Impfzentrum - falls der Kapitän dies überhaupt erlaubt. Die Kombination "Seamen's Mission and German Red Cross" sei der Schlüssel, weil diese Namen vielen Kapitänen vertraut sind. Das Interesse an Bordimpfungen ist groß. "Rund 70 Prozent der derzeit in Bremen liegenden Schiffe würden ihre Besatzungen gerne von uns komplett oder zu großen Teilen impfen lassen", sagt der Diakon.
Viele Todesfälle in den Familien
In den vergangenen Wochen seien bereits mehr als 700 Seeleute auf den Schiffen in den bremischen Häfen geimpft worden. Alle mit dem "One shot"-Impfstoff von Johnson and Johnson, weil bei diesem Vakzin eine Spritze genügt. "Andere Impfstoffe kommen nicht infrage, weil niemand weiß, woher er die zweite Spritze bekommen soll", erläutert Deppe. "Seeleute können nicht planen, wann sie welchen Hafen anlaufen."
Bezahlt werden die Spritzen aus dem Etat der Bremer Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke). Die Impfangebote direkt an Bord der Schiffe seien ein weiterer Schritt in der Bekämpfung der Pandemie, sagt sie: "Mich freut es sehr, dass das Angebot so gut angenommen wird und alle Beteiligten so gut zusammenarbeiten." Das Angebot solle in den kommenden Wochen fortgesetzt werden. Allerdings seien die Planungen für die Zeit nach dem September noch nicht abgeschlossen.
An Bord der "Brillant Journey" wird bei bester Stimmung weitergeimpft. "Die Dankbarkeit der Männer ist unbeschreiblich", sagt Kristina Jung. Viele könnten gar nicht fassen, dass sie mal eben zwischendurch geimpft werden können. Etliche Impflinge hätten ihr von zahlreichen Todesfällen in der Familie wegen einer Covid-Infektion berichtet. In einem Fall seien bereits zehn Familienmitglieder mit dem Virus gestorben. "Die Impfung schafft nicht nur mehr Freiheit im Bordleben, sondern gibt der ganzen Familie mehr Sicherheit." Oft sind die Männer auf See die Alleinernährer.
Gegen Mittag tragen alle Impfwilligen an Bord der "Brilliant Journey" ein Pflaster am Oberarm, und das Team macht sich auf den Weg zum Holzhafen, wo die nächste Crew auf die begehrten Spritzen wartet. Zum Abschied winkt die Wache an der Gangway der Impftruppe nach und reckt den Daumen nach oben: "Thank you for the support!" ruft er: "Danke für die Unterstützung."