Die Flutkatastrophe Mitte Juli hat mehrere Gebiete der rheinischen Kirche getroffen. Sie haben sich vor Ort ein Bild der Zerstörungen gemacht und mit Betroffenen gesprochen. Was hat Sie am meisten bewegt?
Thorsten Latzel: Die Besuche gehören zu den intensivsten Begegnungen mit menschlichem Leid, die ich gemacht habe. Das Ausmaß der Zerstörung und die Schicksale der Betroffenen haben mich tief berührt. Stark beeindruckt hat mich, was die Menschen angesichts der erlebten Traumatisierungen leisten und wie sie auch anderen helfen. Die Feuchtigkeit steckt ja nicht nur in den Mauern, sondern auch tief in den Knochen. Den Menschen ist der Boden unter den Füßen weggezogen worden, Angehörige, Freunde kamen ums Leben, das eigene Zuhause wurde zerstört. Die Folgen dieses Hochwassers werden die Menschen und unsere Gemeinden noch Jahre beschäftigen. Sie haben eine Katastrophe erlebt. In der griechischen Tragödie markieren Katastrophen einen Wendepunkt und eine innere Läuterung. Auch hier geht es darum, dass wir als Gesellschaft umdenken und unser Verhalten ändern müssen.
Wie sehr sind die Kirchen betroffen - und was ist ihre Rolle in dieser Lage?
Latzel: Die Flut hat Kirchen, Gemeindehäuser, Kitas, Diakoniestationen und andere kirchliche Gebäude beschädigt. Beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende sind persönlich existenziell betroffen und mussten erleben, wie das eigene Haus und das soziale Umfeld auf einmal weggespült werden. Als Helferinnen und Helfer sind dabei viele an die Grenze ihrer Kräfte gekommen.
"Wir werden die Betroffenen weiter mit Seelsorge begleiten"
Gefragt sind wir als Kirche sowohl diakonisch als auch seelsorglich und geistlich. Wir haben zu Spenden aufgerufen, ermöglichen Soforthilfen. Wir führen Gespräche, in denen Menschen ihr Erlebtes erzählen und trauern können. Wir feiern Gottesdienste und schaffen liturgische Räume des Schweigens, des gemeinsamen Singens und des Hörens auf alte Texte, die Hilfe in der eigenen Sprachlosigkeit schaffen können. Wenn das Leben, die Pläne von Menschen so tiefgreifend durcheinandergeraten, kann es keine fertigen Antworten geben. Vielmehr braucht es Raum für Klage, für Fürbitte, auch für Dank für erfahrene Bewahrung und Hilfe. Jetzt, da die Phase der ersten Hilfen vorbei ist, werden wir die Betroffenen weiter mit einer nachgehenden Seelsorge begleiten.
Welche Schlüsse und Konsequenzen sollten Politik und Kirche aus der Unwetterkatastrophe ziehen?
Latzel: Die verheerende Flut lässt uns die Verletzlichkeit unseres Daseins spüren. Viele Menschen haben eine ungeahnte Hilfslosigkeit erlebt. Wir merken, dass die Zahl und das Ausmaß von Naturkatastrophen wie Hochwasser und Hitzewellen zunehmen. Und wir wissen, dass das mit unserer Lebensweise zusammenhängt. Die Dringlichkeit einer ökologischen Verhaltensänderung lässt sich nicht leugnen. Wir müssen deshalb die Ursachen des Klimawandels in den Blick nehmen und unser Verhalten ändern, aber auch für künftige Katastrophen vorsorgen - zum Beispiel, indem wir einen Bau oder Wiederaufbau in gefährlicher Nähe zu Flüssen meiden.
"Wir sollten uns bewusst machen, was uns wirklich Halt gibt"
Ich verstehe die Katastrophe darüber hinaus als einen geistlichen Ruf zur Umkehr und zur Besinnung: Was trägt mich in meinem Leben, gibt mir Hoffnung und Halt, wenn alles andere weggespült wird? Als Christinnen und Christen glauben wir an einen Gott, der Menschen auch im Leiden nicht allein lässt, in Schlamm und Dreck mit uns mitleidet. Der uns gegen alle Chaos-Mächte schützt und die Schöpfung bewahrt. Das ist eine Hoffnungsperspektive, die uns stärken kann und die uns motiviert, dass wir uns konsequent für Klimagerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.
Früher hatten viele Leute einen fertig gepackten Notfallkoffer, weil sie in dem Wissen und teils mit der Erfahrung lebten, dass jederzeit etwas Unvorhergesehenes passieren kann. Haben wir uns so sehr an Machbarkeit und Beherrschbarkeit gewöhnt, dass uns die Bedrohung durch Naturgewalten nicht mehr im Bewusstsein ist?
Latzel: Ja und Nein. Es gibt eine fatalistische Prepper-Szene, die immer mit der Apokalypse rechnet und sich auf das Schlimmste einstellt und vorbereitet - eine solche Haltung des Apokalyptisierens hilft uns nicht weiter. Was wir aber brauchen, ist ein Bewusstsein für unsere Vergänglichkeit. Unsere moderne Gesellschaft ist hoch fragil, sie lässt sich nicht gegen alles absichern. Und auch wir selbst sind viel verletzlicher, als wir uns das häufig eingestehen. Einen gepackten Koffer zu haben, ist so gesehen sinnvoll. Wir sollten auch innerlich einen Koffer packen, indem wir uns bewusst machen, was uns wirklich Halt gibt und auch dann noch Bestand hat, wenn alles andere wegbricht. Für mich persönlich ist das der Glaube an den lebendigen, liebenden und mitleidenden Gott.