Amal, Berlin! und Amal Hamburg! sind Projekte des Gemeinschaftswerks der Evangelischen Publizistik (GEP), das auch evangelisch.de herausgibt. Amal informiert Montag bis Freitag auf Arabisch und Dari/Farsi über Ereignisse in den beiden größten Städten Deutschlands. Das Wichtigste vom Tage wird ergänzt durch Reportagen, Interviews und Kommentare. Journalisten und Journalistinnen aus Syrien, Afghanistan, Ägypten und Iran betreiben diese mobile Nachrichtenplattform als eine lokale Tageszeitung online und auch für mobile Endgeräte. Noorullah Rahmani, (50) ist Redakteur bei Amal, Berlin!. Bis 2011 arbeitete er in Afghanistan bei TOLO-TV, kam dann mit seiner Frau und seinen vier Kindern nach Deutschland und arbeitet jetzt als Journalist beim GEP für Amal. Hier sein Kommentar zu den Ereignissen in seinem Heimatland:
Meine Heimatstadt in der Provinz Farah im Westen Afghanistans fiel am Dienstag den Taliban zum Opfer. Als die letzten internationalen Soldaten unser Land verlassen hatten, sahen die Taliban ihre Stunde gekommen. Nach dem Sturz von Farah habe ich mich mit Freunden und Bekannten in Verbindung gesetzt. Die Leute haben Angst, vor allem diejenigen, die in Regierungsbüros arbeiten, weil sie befürchten, dass die Taliban sich rächen werden. Einige von ihnen verstecken sich in ihren Häusern und andere gehen in Dörfer weit weg von der Stadt. Ich telefonierte mit der Frau eines alten Freundes. Er arbeitete für die Sicherheitsbehörden in Farah und kämpfte bis zu Letzten gegen die vormarschierenden Taliban. Seit sie da sind, ist er verschwunden. Seine Frau denkt, dass er sich in den Bergen versteckt, aber sie hat seit Tagen nichts von ihm gehört. Es gibt kein öffentliches Leben mehr, Verwaltung, Lebensmittelgeschäfte, sowie Büros und Schulen sind geschlossen. Die Tore des Stadtgefängnisses haben die Taliban aufgebrochen. Sie befreiten alle Taliban-Gefangenen und auch alle anderen Gefangenen: Mörder, Entführer und Diebe. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über weite Teile des Landes übernommen.
Die Ankunft internationaler Truppen in Afghanistan im Jahr 2001 weckte Hoffnung in der Bevölkerung
Die Menschen haben Angst, auch weil sich viele erinnern können. Bevor 2001 die International Security Assistance Force (ISAF) mit Erlaubnis des Sicherheitsrats in Afghanistan einmarschierte, beherrschten die Taliban schon einmal unser Land. Damals lebte das afghanische Volk in einer Zeit der Dunkelheit und Verzweiflung. Die Taliban regierten das Volk nach ihren extremen Vorstellungen vom Islam. Kritik wurde nicht akzeptiert und bestraft. Der Einmarsch der internationalen Kräfte ließ die Menschen aufblühen: Millionen von Jungen und Mädchen gingen zur Schule, Krankenhäuser, Schulen, Straßen, Brücken, Dämme und andere Infrastruktur wurden mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft gebaut, die Lebenserwartung von Männern und Frauen stieg und Tausende afghanischer Mädchen und Jungen erhielten eine höhere Bildung, Frauenrechte wurden anerkannt und Frauen bekleideten nun sogar hohe Ämter. Diese Errungenschaften sind es, auf die es die Taliban nun abgesehen haben.
Afghanische Frauen und Mädchen sind die Hauptverlierer des US-Friedensplans
Sie betrachten Frauen als Bürger zweiter Klasse. Frauen haben laut Taliban kein Recht auf Bildung, sie sollen nicht arbeiten, sie sollen von einem Muharram, einem Vormund begleitet werden, wenn sie ausgehen wollen. In den letzten 20 Jahren hat sich das Leben von Frauen sehr verändert. Sie konnten zur Schule und Universität gehen, Frauen arbeiteten in vielen Bereichen, sogar in Regierungsämtern und Afghaninnen waren sogar bei den Olympischen Spielen vertreten.
Die internationale Gemeinschaft hat viel in unser Land investiert. Man kann es vergleichen mit einem Gärtner, der einen Garten anlegt. Nun hat leider der Gärtner, der die Bäume gepflanzt hat, den Garten verlassen, bevor sie überhaupt Früchte tragen. Er lässt seinen Garten allein in der Wüste und ging, ohne ihn zu gießen. Was wird wohl passieren?
Überall, wo jetzt die Taliban eingefallen sind, werden Mädchenschulen geschlossen und weibliche Regierungsangestellte entlassen. Die Taliban kündigten sogar in den sozialen Medien an, dass die Ältesten jeder Region den Taliban eine Liste von Witwen und obdachlosen Frauen geben müssen, um die Taliban zu heiraten
Wir sind eine verbrannte Generation
Manchmal frage ich mich, wofür die tausenden Soldaten der internationalen Gemeinschaft getötet und wofür die Hunderten von Milliarden Dollar, die in Afghanistan ausgegeben wurden? Zu welchem Zweck schickten die Nationen der Welt ihre Truppen nach Afghanistan, um getötet und verwundet zu werden? Was ist die Antwort für die Mütter und Väter dieser Soldaten? Wie reagieren die Bürger ihrer Länder, deren Gelder für den Bau von Schulen, Krankenhäusern, Dämmen, Straßen und Brücken in Afghanistan ausgegeben wurden und nun von den Taliban wieder zerstört werden.
Es ist nicht zu spät
Es besteht kein Zweifel, dass die Taliban diese Siege nur erringen können, weil sie ausländische Unterstützer haben. Sie leben von der Unterstützung des pakistanischen Militärs und der Geheimdienste sowie des Korps der iranischen Revolutionsgarden. Genau hier muss die internationale Gemeinschaft ansetzen und Druck auf Pakistan und den Iran ausüben. Die Bundesregierung sollte hier voran gehen. So kann verhindert werden, dass Afghanistan wieder in die Dunkelheit zurückfällt und klar ist: Auch für Europa hätte dies gravierende Folgen, wenn sich in Afghanistan wieder ein Terrorregime mit Unterschlupfmöglichkeiten für Radikale aller Art bildet und sich Millionen Menschen auf die Flucht machen. Inzwischen gibt es in Deutschland viele Afghanen mit deutscher Staatsbürgerschaft. Noch sind es zwar nicht genug, dass wir eine Wahl mitentscheiden können, umso mehr hoffen wir darauf, dass man unsere Stimme, unseren dringenden Appell hört: Denkt an Afghanistan! Handelt jetzt!
evangelisch.de dankt Amal, Berlin! für die Kooperation.