„Wir haben als Land in den vergangenen Jahren Mitverantwortung in Afghanistan getragen“, sagte Bedford-Strohm der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Gerade deshalb ist es jetzt auch an uns, einen solidarischen Beitrag zur Bewältigung der Folgen zu leisten, indem wir dafür sorgen, dass Menschen, denen die Flucht aus Afghanistan gelingt, menschenwürdige Aufnahme finden.“ Dies gelte unabhängig davon, ob sie Helfer der Alliierten waren oder nicht.
Bedford-Strohm, der auch bayerischer Landesbischof ist, forderte, den „überstürzten Abzug der Truppen“ zu gegebener Zeit genau zu analysieren. Jetzt müsse es unmittelbar um Hilfe für die Bevölkerung und alle nur denkbaren diplomatischen Aktivitäten gehen, um befürchtete Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Nur kurze Zeit nach dem Rückzug der internationalen Truppen haben die Taliban Afghanistan wieder unter ihre Kontrolle gebracht. Sie hatten das Land bis 2001 regiert.
Die Bundeswehr hat inzwischen eine erste Gruppe von Menschen aus Kabul ausgeflogen. Ein Militärflieger (Typ A400M) mit Schutzbedürftigen sei in Richtung Taschkent im Nachbarland Usbekistan gestartet, teilte das Bundesverteidigungsministerium in der Nacht zum Dienstag auf Twitter mit. Das Auswärtige Amt bestätigte am Morgen, dass nur sieben Personen mitgenommen wurden und begründete die geringe Zahl mit den Bedingungen vor Ort. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sprach von einer unübersichtlichen Situation am Kabuler Flughafen und „einer wirklich halsbrecherischen Landung“ der deutschen Transportmaschine.
Es seien vor allen Dingen Soldaten vor Ort gebracht worden, die jetzt am Flughafen dafür sorgten, dass Menschen zum Flughafen gelangen könnten, um ausgeflogen zu werden, erklärte Kramp-Karrenbauer im ARD-„Morgenmagazin“. Eine zweite Bundeswehrmaschine warte nun auf grünes Licht der Amerikaner, damit die Evakuierungen fortgesetzt werden könnten.
Weg zum Flughafen "untragbares Risiko"
Das Außenministerium erläuterte, wegen der chaotischen Umstände am Flughafen und regelmäßiger Schusswechsel am Zugangspunkt sei nicht gewährleistet gewesen, dass weitere Personen ohne Schutz der Bundeswehr überhaupt Zugang zum Flughafen erhalten würden. Sie aufzurufen, sich insbesondere nachts zum Flughafen zu begeben, „wäre es ein untragbares Risiko für Leib und Leben der Menschen vor Ort gewesen“. Zudem hätten die Partner, die am Flughafen verantwortlich für die Sicherheit sind, eine Aufnahme von Personen, die sich am zivilen Teil des Flughafens aufhielten, nicht ermöglicht. Das Flugzeug habe zudem aufgrund der Sicherheitsvorgaben Kabul nach kurzer Zeit wieder verlassen müssen, sagte der Sprecher.
Für den weiteren Verlauf der Rettungsaktion beschrieb Kramp-Karrenbauer zwei Szenarien. „Das erste Szenario ist, dass der Flughafen nur für kürzere Zeit offen gehalten werden kann. Dafür haben wir jetzt auch sehr robuste Kräfte vor Ort und verstärken weiter“, sagte sie. „Das zweite Szenario, auf das wir alle zusammen mit den Amerikaner hoffen, ist, dass wir in den nächsten Tagen eine Luftbrücke aufbauen können.“ Dafür stünden bis zu 600 Soldaten vor Ort bereit. Jetzt sei es wichtig, dass Schleusen aufgebaut würden, um Deutsche, Ortskräfte und gefährdete Personen herauszuholen, so Kramp-Karrenbauer: „Der Auftrag der Bundeswehr ist klar: So lange es irgendwie geht, so viele wie möglich rausholen.“
Das deutsche Militärflugzeug hatte wegen der angespannten Lage am Flughafen Kabul am Montag zunächst nicht landen können. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte am Montagabend versprochen, alles daran zu setzen, die eigenen Landsleute in Sicherheit zu bringen sowie afghanische Ortskräfte, die für staatliche Entwicklungsorganisationen und Nichtregierungsorganisationen in Deutschland gearbeitet haben. Hier seien etwa 1.500 Personen kontaktiert worden, knapp 600 hätten sich gemeldet.
Laut Auswärtigem Amt wurden bereits in den vergangenen Wochen von 2.500 afghanischen Ortskräften der Bundeswehr und der deutschen Polizei rund 1.900 nach Deutschland gebracht. Das Auswärtige Amt ging davon aus, dass sich eine hohe zweistellige Zahl an Deutschen noch im Land aufhält.
Steinmeier: "Beschämend für politischen Westen“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte sich erschüttert über die dramatische Lage der Menschen in Afghanistan. „Die Bilder der Verzweiflung am Flughafen in Kabul sind beschämend für den politischen Westen“, sagte er am Dienstag in Berlin. An anderer Stelle sagte er: „Wir erleben in diesem Tagen eine menschliche Tragödie, für die wir Mitverantwortung tragen, eine politische Zäsur, die uns erschüttert und die Welt verändern wird.“
Steinmeier betonte, umso mehr müsse man nun zu denen stehen, denen man durch ihre Arbeit und Unterstützung im 20-jährigen Militäreinsatz verpflichtet sei. „Deutschland muss alles daran setzen, unsere Landsleute und alle Afghaninnen und Afghanen, die ihnen jahrelang zu Seite standen, in Sicherheit zu bringen“, sagte er. Inwieweit das gelingen kann, nachdem die radikalislamischen Taliban auch die afghanische Hauptstadt Kabul bis auf den militärischen Teil des Flughafens unter ihrer Kontrolle haben, ist derzeit ungewiss.
Steinmeier forderte, auch all den anderen in Afghanistan zu helfen, denen nun Gewalt und Tod drohe, „darunter viele mutige Frauen“. Der rasche Zusammenbruch der afghanischen Regierung und ihrer Streitkräfte sowie die widerstandslose Übernahme der Herrschaft durch die Taliban „wird lange Schatten werfen“, sagte er. Er sprach von einem „Scheitern unserer jahrelangen Anstrengungen, in Afghanistan ein stabiles, tragfähiges Gemeinwesen aufzubauen“. Dies werfe grundlegende Fragen des außenpolitischen und militärischen Engagements auf. Es seien „bittere Fragen, die wir nicht in erster Linie schnell, sondern ehrlich und gründlich beantworten müssen“, sagte der Bundespräsident.
Taliban rufen Frauen zu politischer Teilnahme auf
Nach den chaotischen Zuständen in Afghanistan am Vortag hat sich die Taliban-Führung unterdessen am Dienstag bemüht, ein Gefühl von Normalität zu vermitteln. Aus dem Präsidentenpalast in Kabul wies sie ihre Kämpfer an, nicht in fremde Häuser einzudringen und das Eigentum der Menschen zu respektieren, wie der TV-Sender Tolo berichtete. Zudem erklärten die Aufständischen dem arabischen Sender Al-Dschasira zufolge eine „Amnestie“ und riefen Frauen auf, am politischen Leben teilzunehmen.
Auch erschienen wieder Frauen auf dem Bildschirm von Tolo News. Die Journalistin Beheshta Arghand interviewte einen Vertreter der Aufständischen. Und eine Reporterin berichtete aus den Straßen von Kabul. Am Montag hatte der Sender nur männliche Moderatoren und Reporter im Programm gehabt. Dennoch waren die Straßen von Kabul am Dienstag weiterhin vergleichsweise leer. Viele Geschäfte und Büros blieben dem Sender zufolge geschlossen, es gab wenig Verkehr und deutlich weniger Frauen auf den Straßen.