„Viele Menschen, die sich in den letzten Jahren - auch mit Geldern der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit - für den Aufbau von Demokratie, Menschenrechten und einer kritischen Zivilgesellschaft stark gemacht haben, sind jetzt in akuter Lebensgefahr“, erklärte die Präsidentin von „Brot für die Welt“ und Diakonie Katastrophenhilfe, Dagmar Pruin, am Dienstag. Es brauche deshalb dringend großzügige Schutzkontingente und eine sofortige Evakuierung besonders gefährdeter Frauen und Männer.
Aber auch im Land selbst bräuchten die Menschen Hilfe, betonte Pruin. Schon vor der Machtübernahme der Taliban seien die Lebensumstände vieler Menschen verzweifelt gewesen, elf Millionen Afghaninnen und Afghanen hätten gehungert. „Leider müssen wir davon ausgehen, dass sich die Not jetzt weiter verschärft.“
Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, verwies darauf, dass durch die Machtübernahme der Taliban eine neue Fluchtbewegung aus Afghanistan bevorsteht. Anrainerstaaten wie die Türkei, Pakistan und der Iran bräuchten Unterstützung, um Geflohene aufnehmen und mit dem Nötigsten versorgen zu können. Zudem seien Resettlement-Programme, also die Verteilung von Flüchtlingen auf andere Länder, in der gesamten EU nötig, betonte Lilie.
„Niemand muss vor der neuen Aufnahme von Geflüchteten Befürchtungen haben“, erklärte Lilie. Es habe sich gezeigt, dass Integration gelingen könne. „Dazu braucht es Geduld, Engagement und einen langen Atem - auch in der Politik.“ Nötig sei dafür ein humanitäres Aufenthaltsrecht jenseits von Einzelfallprüfungen. „Denn spätestens jetzt muss jedem klar sein: Weitere Abschiebungen sind nicht zu verantworten.“
Welthungerhilfe will im Land bleiben
Nach der Übernahme der Macht durch die Taliban will die Welthungerhilfe ihre Arbeit in Afghanistan fortsetzen. „Die Kolleginnen und Kollegen haben erstmal versucht, sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen, aber sie haben den Wunsch weiterzumachen“, sagte der Generalsekretär der Hilfsorganisation, Mathias Mogge, dem epd. Besonders die Mitarbeiterinnen fürchteten aber um sich und die Programme, die sie seit Jahren entwickelt hätten, um Frauen zu fördern. „Da ist eine sehr große Angst und Unsicherheit.“
Entscheidend ist Mogge zufolge, dass die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft die Arbeit der Hilfsorganisationen weiter unterstützen. „Es ist extrem wichtig, dass sie dem afghanischen Volk gerade jetzt zur Seite stehen, mit weiteren finanziellen Zusagen für unsere Arbeit.“ Dies gelte aber auch für andere Formen der Hilfe.
So forderte Mogge die Bundesregierung auf zu ermöglichen, dass besonders gefährdete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ausgeflogen werden. „Ich hoffe, dass die Bundesregierung einsieht, dass manche Menschen einfach sehr, sehr gefährdet sind.“ Für Organisationen, die sich um Frauenrechte und Menschenrechte kümmerten, gelte dies noch mehr als für die Welthungerhilfe, sagte der Generalsekretär.
Man versuche, die zwei noch verbliebenen ausländischen Mitarbeitenden außer Landes zu bekommen, sagte Mogge. „Aber es ist nicht einfach, es gibt im Moment gar keine Möglichkeit.“ Gleichzeitig sei es gerade jetzt, wo das Land dieses humanitäre Desaster erlebe, wichtig, dem eigenen Mandat gerecht zu werden. „Ob wir die Operationen aufrechterhalten können, hängt davon ab, wie sich die Bedingungen gestalten, und das ist noch total unklar.“ Das Hilfswerk beschäftigt etwa 180 nationale und internationale Kräfte in Afghanistan und finanziert seine Programme im ganzen Land mit rund zehn Millionen Euro jährlich.
Es gebe Signale der Taliban, nicht gegen Hilfsorganisationen vorzugehen, „sie zeigen eher einen moderaten Kurs“, sagte Mogge. Vertreter der Taliban hätten auch die Welthungerhilfe kontaktiert, es gebe erste Gespräche. „Aber wir sind gut beraten, erstmal abzuwarten.“ Die afghanische Bevölkerung sei insgesamt sehr religiös und konservativ geprägt. „Deswegen war es nie ganz einfach, Frauenprojekte oder Bildungsprojekte zu machen.“ Aber während der Herrschaft der Taliban in den 90er Jahren sei die Arbeit noch schwieriger gewesen.
Mogge sagte, er gehe davon aus, dass die Welthungerhilfe zunächst auch mehr Nothilfe leisten werde. Zugleich sei es aber auch wichtig, ein Gebiet aufzuforsten oder ein Bewässerungssystem wieder instand zu setzen, damit die Menschen sich ernähren können. Die Organisation leiste bereits seit Jahren Nothilfe für Vertriebene, die in der Hauptstadt Kabul unter dramatischen Bedingungen lebten. „Aber auch da haben wir Alphabetisierungsprogramme für Frauen und Mädchen angeboten.“ Es sei wichtig, solchen Menschen nicht nur kurzfristig zu helfen, sondern sie auch darin zu unterstützen, eine Existenz aufzubauen.