Der weitläufige Rastplatz „Heseper Moor“ an der A 31 von Emden nach Bottrop liegt an diesem wolkenverhangenen Sommertag fast auto- und menschenleer da. Die Rasenflächen sind frisch gemäht, grüne Müllsammelbehälter stehen am Rand. Ein paar Schritte neben dem Toilettenhaus voller Graffiti kuschelt sich ein schmuckes Häuschen aus rot-bunten Backsteinen zwischen Bäume und Büsche. Die Autobahnkapelle „Jesus, Brot des Lebens“, einem emsländischen Backhaus nachempfunden, lädt zum Eintreten. Hinter der schweren Tür aus Mooreiche verstummt der Lärm der vorbeizischenden Autos, die zwischen Nordseeküste und Ruhrgebiet unterwegs sind.
Marianne Schnell und Jürgen Jungblut hatten eigentlich nur nach einem Rastplatz mit Toilette Ausschau gehalten. Weil sie auf Reisen aber häufig eine der 44 deutschen Autobahnkapellen aufsuchen, sind sie auch dieses Mal dem Hinweisschild gefolgt: der schwarzen Kirchen-Silhouette auf weiß-blauem Grund. Der 62-Jährige geht auf der Gebetsbank vor dem Kerzentisch auf die Knie, stützt die Ellenbogen auf und faltet die Hände. Er versinkt in Gedanken, den Blick auf die flackernden Kerzen gerichtet. „Dabei habe ich mit der Kirche eigentlich abgeschlossen“, sagt der Katholik ein paar Minuten später.
Einen Gottesdienst hat das Paar aus dem Siegerland schon seit Jahrzehnten nicht besucht. „Das bringt mir nichts mehr“, sagt die 55-Jährige. In Autobahnbahnkapellen halten sie inne, „beten, dass wir gut hin- und zurückkommen, denken an die Verstorbenen“, sagt die Fleischerei-Fachverkäuferin. An diesem Tag will sie außerdem Danke sagen dafür, dass sie mit ihrem Mann trotz Krebserkrankung und Chemotherapie ein paar schöne Tage in Ostfriesland verbringen konnte.
Rund 60.000 Menschen besuchen jährlich die Kapelle, die im November 2000 eingeweiht wurde, berichtet der evangelische Pastor Thorsten Jacobs. Bei der Zählung orientiert er sich an der Zahl der abgebrannten Kerzen. Einige Besucher seien sogar Stammgäste und kämen nach dem Urlaub an der Nordsee jedes Jahr wieder.
„Jesus, Brot des Lebens“ ist eine der wenigen Autobahnkirchen in Norddeutschland. Die meisten der sogenannten Rastplätze für die Seele befinden sich in der Mitte des Landes. Alle sind rund um die Uhr oder mindestens tagsüber geöffnet.
Eine Million besucher pro Jahr
Die Zahl der Besucher in allen Autobahnkirchen liege mittlerweile bei rund einer Million pro Jahr, sagt Volker Thorn von der Akademie der Versicherer im Raum der Kirchen, die die Autobahnkirchen vernetzt. Die Tendenz sei steigend, wenn man von Corona absehe. Vor allem immer mehr osteuropäische Lkw-Fahrer nutzten die Kirchen. Seit Eröffnung der ersten Autobahnkirche 1958 ist deren Zahl massiv gestiegen: Die 45. ist derzeit in Planung.
Die Besucher:innen schätzten vor allem die Ruhe und Anonymität. „Dass überwiegend kein Seelsorger anwesend ist, stört nicht“, sagt Thorn. Die offenen Türen, die brennenden Kerzen, die Symbole des Glaubens böten auch denjenigen Besinnung und Begegnung mit Gott, denen der Glaube fremd geworden sei. „In den gastfreundlich gestalteten Kirchen am Wegesrand machen Menschen die Erfahrung: 'Hier bin ich willkommen, hier darf ich sein.“
Pastor Jacobs betreut die Kapelle in Groß-Hesepe gemeinsam mit seinem katholischen Kollegen Jürgen Altmeppen und dem Fördervereinsvorsitzenden Hans-Josef Leinweber. Sie sehen in Abständen nach dem Rechten, legen neue Kerzen, Flyer, Gebets- und Liederhefte aus. Einmal im Jahr, zum Tag der Autobahnkirchen im Sommer, feiern sie gemeinsam mit rund 250 Bewohnern umliegender Gemeinden einen großen Gottesdienst.
Ansonsten ist die Kapelle sich selbst und den Besuchern überlassen. „Sie sprechen aus, was ihnen auf der Seele liegt - vor Gott, wenn sie gläubig sind, oder einfach in den leeren Raum“, sagt Pastor Jacobs. Im „Anliegenbuch“, das in jeder Autobahnkirche ausliegt, halten viele ihre Gedanken und Gebete fest, sie bitten um Gesundheit und danken für einen schönen Urlaub. Hannah B. wünscht sich „eine ehrliche Liebe“. Milan dankt Gott für seine „fürsorgliche und liebe Familie“. Eine Familie aus Uerdingen schreibt: „Kurzabstecher nach Hause und natürlich Besuch in dieser wunderbaren Kapelle.“
Das Buch hat es auch Andre Schlink und Stefanie Schlink-Böger aus Detmold angetan. Neugierig blättern sie durch die Seiten. Sie haben ganz zufällig am Rastplatz eine Pause eingelegt und einen Blick in die Kapelle geworfen. „Ein schöner ruhiger Moment zum Verweilen“, finden die beiden.
Marianne Schnell ist in den Anblick des Fensters hinter dem Altar versunken. Die warmen Gelb- und Orangetöne, unterbrochen von blauen Linien, faszinieren sie. Sie sei immer auf der Suche nach Kraftquellen, die ihr helfen könnten, die Krankheit zu bekämpfen, erklärt sie: „Das Fenster macht mich ganz ruhig.“ Dann zieht sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und macht ein Foto.