Offensichtlich macht es ihm Freude, die Erwartungen seines Publikums zu enttäuschen. “The Times, They Are a-Changing”, “die Zeiten ändern sich”, bläut er seinen Fans seit 1964 ein. Denn die bedrängten ihn oft mit Buh-Rufen und gnadenlosen Pfiffen, er möge doch gefälligst wieder zum jungen Mann mit Klampfe, Mundharmonika und Weltverbesserer-Pathos werden.
Robert Allen Zimmerman wurde 1941 in Duluth (im US-Bundesstaat Minnesota) geboren. Seine jüdischen Großeltern waren aus Russland und der östlichen Türkei in das Land eingewandert. Folk-Musik, vor allem die Songs von Woody Guthrie, hatte es ihm früh angetan. So ehrlich und unverblümt wollte er auch singen.
Mit 19 suchte er sein Glück in New York; im Künstler-Stadtteil Greenwich Village tauchte er in die Welt der kreativen Intellektuellen ein. Er wechselte seinen Namen, wohl auch aus dem Grund, nicht sofort als Jude erkannt zu werden. Bob Dylan nannte er sich fortan, spielte Konzerte in kleinen Clubs und galt als Geheimtipp. Harry Belafonte erkannte sein Mundharmonika-Talent und holte ihn ins Studio.
Schnell wurde Dylan als eigensinniger Folksänger berühmt. Mit Westerngitarre trat er auf großen Festivals auf, auch im August 1963 beim “Marsch auf Washington”, bei dem Martin Luther King seine berühmte Rede “I have a dream” hielt. Mit nasal-sehnsüchtiger Reibeisenstimme sang Dylan Songs über Krieg und Frieden und über das Schicksal der Mühseligen und Beladenen dieser Welt. “Blowin’ in the Wind”, später auch “Knockin’ On Heaven’s Door”, wurden zu Hymnen der weltweiten Friedensbewegung.
1965 tauschte Dylan die akustische gegen eine E-Gitarre aus und spielte fortan seine Songs auch in rockigen Versionen. Dieser Wandel brachte seine Fans erstmals gegen ihn auf. Doch der Status einer Protest-Ikone behagte ihm nicht, er wollte sich weiterentwickeln. Bei Auftritten in England beschimpften ihn Fans als “Judas”.
Ein Motorradunfall unterbrach 1966 jäh seine Karriere. Dylan lebte in einem Dorf nahe Woodstock, widmete sich ganz seiner Frau und seinem Sohn, für den er das fromme Segenslied “Forever Young” schrieb: “May God bless and keep you always” (“Möge Gott Dich segnen und immer behüten”).
Für viele seiner Songs bediente er sich aus der Schatzkiste der biblischen Tradition. Seine Songs wirken häufig wie geniale, bisweilen auch surrealistische Wort-Collagen und erlauben viele Deutungen. Irdische Gerechtigkeit und das Jüngste Gericht sind für ihn wichtige Themen. Daneben singt Dylan herzerweichende Liebeslieder, bei denen man oft nicht weiß: Besingt er die Liebe zu einer Frau - oder die zu Gott?
1979 bekehrte sich Dylan zu Jesus. In einer Lebenskrise hatte sich der freiheitsliebende Musiker von fundamentalistischen Christen betören lassen. Auf seinen CDs und bei Konzerten wirkte er nun fast wie ein Missionar, forderte die Menschen zur Entscheidung auf: “Wem dienst Du – Gott oder dem Teufel?” (“Gotta Serve Somebody”). Nach drei Jahren war diese Phase ausgestanden.
Großartige tiefsinnige CDs erschienen danach, auf denen er mit dem Zeitgeist und der bleibenden Ungerechtigkeit, mit sich selbst und auch mit Gott ins Gericht geht. Aber er ist sich sicher, “dass es einen großen göttlichen Sinn hinter allem” gibt. Die Komplexität und Tiefe seiner Texte – Gedichte und Lieder – überzeugte 2016 auch das Nobelpreiskomittee und verlieh ihm den Literaturnobelpreis.
„I Contain Multitudes“, singt Dylan auf seiner aktuellen CD „Rough And Rowdy Ways“ (SONY 2020), „in mir sind viele“ lässt sich das in etwa übersetzen. Das wirkt, als wolle er seinen Fans nochmal klipp und klar erklären: Den Bob Dylan, den sie sich zurechtgezimmert und -geträumt haben, den gibt es so nicht. „I'm just like Anne Frank, like Indiana Jones / And them British bad boys, The Rolling Stones", singt er. Das muss man erstmal schaffen: Die Grausamkeit der Nazi-Gewaltherrschaft mit hollywoodesker Erlösungskultur und Rockmusik in einem Atemzug zu nennen, ohne in Sarkasmus oder Oberflächlichkeit abzugleiten.
Sogar ein Griff in die Kiste der griechischen Mythologie ist enthalten. Er bittet die „Mutter des Musen“, sie möge für ihn singen. Damit meint er offensichtlich Mnemosyne, sie gilt als „Mutter“ der neun Musen, die als Schutzgöttinnen der Kunst angesehen werden und als solche Künstler in ihrem Schaffen inspirieren. Mnemosyne selbst ist Göttin der Erinnerung; wenn Dylan mit ihr in Kontakt tritt, dann wünscht er sich, sie möge ihm das aus seiner eigenen Vergangenheit ins Bewusstsein zurufen, was ihm wichtig war.
Die Kraft der Erinnerung, so hofft er, könne ihn von seinen Sünden befreien. Und am Ende würde er zu ihr heimkehren: „Ich reise mit leichtem Gepäck und komme langsam nach Hause.“ Auf seinem Album packt er viele Erinnerungen aus: An jene Menschen, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet haben, namentlich nennt er viele Musikerinnen und Musiker, von Jimmy Rodgers über Elvis Presley bis zu den Eagles. Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte: John F. Kennedy, Martin Luther King. Und Geistesgrößen wie Karl Marx und Sigmund Freud, Schriftsteller wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg.
Wer dieses Musen-Loblied für Dylans Weisheit letzten Schluss hält, denkt zu kurz. Denn zu den Schätzen in Dylans Leben gehört auch die „old time religion“, sie sei das einzige, was er braucht, singt er im Song „Goodbye Jimmy Reed“, mit dem er den amerikanischen Blues-Gitarristen und Mundharmonikaspieler würdigt. „Schlag auf die Bibel, verkünde das Glaubensbekenntnis“, singt Dylan und zitiert aus dem Vaterunser: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.“
Überschreiten des Rubikons
Der Rubikon, ein Fluss in Italien, ist durch Julius Cäsar geschichtsträchtig geworden, der ihn mit seinen Truppen im Jahr 49 v. Chr. überquerte und gen Rom zog. In der Folgezeit ist die Formulierung „den Rubikon überschreiten“ zu einer Metapher geworden dafür, sich unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen. Dylan singt in dem Lied von jenen verlorenen Zeiten seines Lebens, die er „untätig“ verbracht habe; dann singt er vom „Heiligen Geist“ und vom „Licht das die Freiheit gibt“ und das „für jeden erreichbar“ sei. Was mag Dylan beim Dichten der letzten Strophe im Kopf gehabt haben: „Der tödliche Frost liegt am Boden und die Herbstblätter sind verschwunden. Ich zündete die Fackel an und schaute nach Osten und überquerte den Rubikon.“ Meint er mit dem Überschreiten des Rubikons die Schwelle seines eigenen Todes?
Vielleicht verbietet er sich, so weit zu denken. „Es ist Gott allein, der dir Freiheit schenkt, und die Tage, um die man sich am meisten kümmern sollte, heißen Heute und Morgen“, hatte er schon 1990 einem Journalisten erklärt. 1997, nach einer schweren Herzbeutelentzündung, hatte er zugegeben, angesichts der Krankheit „sehr ernst nachzudenken“.
Einige Songs des letzten Albums wirken wie ein musikalisches Vermächtnis. Verständlich an der Schwelle ins neunte Lebensjahrzehnt. Im Lied „I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You“ hört man ihn auf der Terasse unter dem Sternenhimmel mit alter Stimme über das Leben sinnieren, im Hintergrund summt ein Chor die Melodie der „Barcarole“ aus Jacques Offenbachs Oper „Hoffmans Erzählungen“. „Hätte ich die Flügel einer schneeweißen Taube, würde ich das Evangelium der Liebe predigen“, singt Dylan und hofft, „dass die Götter es mir leicht machen“.
Auch der von Dylan besonders herausgehobene Song „I Contain Multitudes“ enthält eine tröstliche und lebenskluge Botschaft. Er entlastet von der Erfüllung des schönen, aber schwer zu verwirklichenden Wunsches, am Ende des Lebens romantisch auf eine stets zielgerichtete Lebensreise und eine allzeit authentische Lebensweise zurückzublicken. Dylan formuliert – bisweilen mit wachrüttelnder Unbekümmertheit – eine tiefe, selten ausgesprochene Lebensweisheit: In jedem Menschen schlummern viele Seiten, die ihr Recht einfordern. Manche scheinen so gegensätzlich, dass sie gedanklich und emotional kaum zusammenzubringen sind. Eine Lebenskunst ist es, sie miteinander zu versöhnen. Bob Dylans Lieder und sein bewegtes Leben zeigen: Bei dieser Aufgabe hilft dreierlei. Erstens die Musik. Zweitens ein Griff in die Erfahrungsschatzkiste der biblischen Spiritualität. Und schließlich die Hoffnung auf einen gnädigen Gott.