Es ist ein schmerzhaftes Thema, über das Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler und Caro Keller, Aktivistin von NSU-Watch, auf dem Podium des 3. Ökumenischen Kirchentags gesprochen haben: Rechtsterrorismus in Deutschland. Schmerzhaft für die Opfer und ihre Hinterbliebenen, die den Verlust ihrer Angehörigen betrauern und häufig in Angst leben. Schmerzhaft für die Behörden und die Politik, die sich vorwerfen lassen müssen, dass sie Bürgerinnen und Bürger ihres Landes nicht schützen konnten und zu wenig getan haben, um die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Und schmerzhaft für uns alle als Gesellschaft, weil auch wir dazu beigetragen haben, dass sich rassistische Strukturen so ausbreiten konnten, dass solche Taten in Deutschland möglich geworden sind.
Aber hat sich denn gar nichts an Aufklärung getan seit der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)? Caro Keller sieht zwei Entwicklungen: "Wir haben aus dem NSU-Komplex gelernt: Es gibt Netzwerke, die bereit sind, Terror durchzuführen", sagte Keller. "Wir wissen viel über recht Gewalt und rechten Terror und könnten ihn jederzeit verhindern." Außerdem beobachte sie, dass Menschen genauer hinschauen. Rassistische Talkshows könnten zum Beispiel nicht mehr ohne Widerspruch stattfinden. Sie nehme eine größere gesellschaftliche Solidarität wahr.
Dennoch kam es zu den Anschlägen in Halle und in Hanau. Seit circa 2013 gebe es eine massive völkisch-rassistische Mobilisierung, sagte Keller. "Viele Rassistische Dinge sind sagbarer und dadurch machbarer geworden." Diese rechten Narrative würden den Tätern den Rücken stärken. "Die Täter dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie einen 'Volkswillen' ausführen", sagte sie.
Netzwerke statt Einzeltäter
Mehmet Daimagüler, Anwalt der Nebenanklage im NSU-Prozess, beklagte die "wohlwollende Ignoranz" in der deutschen Politik, in der Justiz und den Polizeibehörden. Zu lange wurde das Problem des Rechtsterrorismus nicht ernst genommen. Als prominentes Beispiel nannte er, dass die Behörden bei den NSU-Morden die Täter im Umfeld der Angehörigen oder im Drogenmilieu vermutet haben, anstatt sich auf mögliche rassistische Motive zu konzentrieren. Aber auch heute noch - nach Halle, Hanau und dem Mord an Walter Lübcke - werde zu oft von Einzeltätern gesprochen.
Die Szene sei gut vernetzt und entwickele gemeinsame Strategien. "Wir brauchen einen Sicherheitsapparat, der in der Lage ist, eine Gefahr zu erkennen und die Strategien zu adaptieren und entsprechend vorzugehen", sagte Daimagüler. Auch Keller forderte, dass die Behörden verstärkt gegen rechte Netzwerke vorgehen müssten. Unverständnis löste bei ihr aus, warum Statistiken über Neonazis mit Waffenschein geführt werden, anstatt diese zu entwaffnen. In diesem Zusammenhang kritisierte sie die Rolle des Verfassungsschutzes bei der Aufklärung des NSU-Komplexes. "Warum wurde das NSU-Netzwerk nicht vollständig aufgedeckt? NSU aufdecken heißt auch, Behördenversagen aufzudecken. Der Verfassungsschutz ist Teil des Problems, nicht der Lösung."
Auch die Medien hätten sich im NSU-Komplex durch einseitige und rassistische Berichterstattung hervorgetan, kritisierten beide Podienteilnehmer:innen. Die Bezeichnung "Döner-Morde" sei auch ohne Aufdeckung des NSU rassistisch gewesen. "Da haben sich zwei gefunden: Die Medien und ein dankbares Publikum, das sich keine schmerzhaften Fragen stellen musste. Es waren ja Türken unter Türken", sagte Daimagüler ironisch. "Die biodeutsche Öffentlichkeit konnte sich mit der Storyline, dass sich Migranten gegenseitig umbringen, sehr gut anfreunden."
Früh einschreiten
Selbst als sich der NSU selbst enttarnt hatte, wiesen deutsche Bekannte von Daimagüler das Problem von sich. Es wären zwar keine Migranten gewesen, aber eben ostdeutsche Täter. Dabei habe es auch im Westen viele rechtsterroristische Anschläge gegeben. "Anschläge wie in Mölln und Solingen werden verdrängt." Als gesellschaftliches Problem sieht er dabei das Narrativ der deutschen Vergangenheitsbewältigung. "Dass der Rassenhass am 8. Mai 1945 vorbei war ist ein enormer Selbstbetrug." Gerade deshalb müsse man auch den institutionellen Rassismus verstärkt in den Blick nehmen. Im Zuge der Debatte zu rechtsradikalen Umtrieben in der Polizei wehrt sich Daimagüler gegen eine pauschale Verurteilung: "Es ist falsch, wenn man sagt, dass rechtsradikale Chatgruppen in der Polizei Einzelfälle sind, aber es ist auch falsch zu sagen, unsere Polizei besteht nur aus Rassisten". Er forderte aber auch: "Rassisten in Uniform gehören rausgeworfen." Um dagegen fundiert vorgehen zu können, benötige es eine Studie zu Rassismus in der Polizei.
Auf die Frage der Kirchentagsbesucher:innen, was man als Einzelne oder Einzelner gegen Rechtsterrorismus tun könne, schlug Keller zunächst vor, den Angehörigen zuzuhören und ihnen Glauben zu schenken. "Man kann hinschauen und eingreifen. Alle Menschen haben Handlungsoptionen", sagte sie. "Der rechtsextreme Mord ist das Ende einer Entwicklung", sagte Daimagüler. "Man kann schon fünf Stufen früher einschreiten: bei Rassismus in der Fußgängerzone oder wenn Polizisten bei der Kontrolle einen Migranten einfach duzen." Es sei aber nicht ausreichend, nur einmal einzugreifen, ergänzte Keller. "Nur wenn man bei einem schweren Schiffsruder dauerhaft und gemeinsam schiebt, kann man die Richtung ändern", sagte sie.
Auf die Frage, wie man rechte Morde erkennen könne, bezog sich Caro Keller auf Ibrahim Arslan, einen Überlebenden des rechtsextremen Brandanschlags in Mölln 1992 (auf dem ÖKT zu Gast bei diesem Podium). Dieser fordere: Wenn ein Mensch, der von Rassismus bedroht ist angegriffen wird, muss das so lange als ein rechter Mord gelten bis das Gegenteil bewiesen ist.
"Das christliche Menschenbild verträgt sich nicht mit Schweigen"
Daimagüler forderte auch die Kirchen und insbesondere alle Christen auf, bei Rassismus genau hinzuschauen und das Problem anzuerkennen. "Das christliche Menschenbild, der Sinn dessen, was sich aus der Bergpredigt ergibt, verträgt sich nicht mit Menschenfeindlichkeit, mit einem Still-Sein, einem Nicht-Einmischen und Schweigen." Muslime nehme er dabei nicht aus. Bei einem Auftritt in einer Moschee habe er gesagt: "Wer über Islamophobie sprechen will, darf zu Antisemitismus, Homophobie und Sexismus nicht schweigen." Es sei wichtig, füreinander einzustehen und sich dem Problem nicht nur über das eigene Opfer-Narrativ zu nähern. "Wir müssen Hüter des Nächsten werden, sonst zerfallen wir in kleine Ich-AGs. Wenn wir schweigen, werden wir selbst nicht sicher sein."
Auch sein eigenes Verhalten reflektiert er kritisch. Als eine Nebenklägerin im NSU-Prozess ihn angefragt habe, ob er ein Mandat übernehmen will, zögerte er. "Ich war vor der Selbst-Aufdeckung des NSU überzeugt, dass es rechtsextreme Morde sind", erzählt Daimagüler, der ab 1997 im Bundesvorstand der FDP war. Er hätte in dieser Funktion das Thema bei diversen Top-Politikern ansprechen können, sich aber aus Furcht und Opportunismus dagegen entschieden. "Ich wusste genau, wenn ich als einziger Türke im Vorstand anfange, über Rassismus zu sprechen, dann falle ich aus der Rolle." Zugunsten seiner politischen Karriere habe er geschwiegen. Das Mandat der Nebenanklage hat er dann als "tätige Reue" angenommen.
Der Kampf gegen den Rechtsextremismus müsse mit dem eigenen inneren Schweinehund beginnen, sagte Daimagüler. "Wir leben in einem Land, in dem 90 Prozent der Menschen etwas sagen, wenn sich jemand an der Supermarktkasse vordrängelt, aber wir schweigen, wenn die Menschenwürde verletzt wird. Das sind doch nicht wir! So wollen wir doch nicht sein!"