Frau Jahnel, in Corona-Zeiten, gerade jetzt zu Ostern, kämpfen die Kirchen um Präsenzgottesdienste. Tun sie das auch deswegen, weil christlicher Glaube nur in physischer Gemeinschaft der "zwei oder drei in Jesu Namen" gelebt werden kann?
Claudia Jahnel: Im ersten Lockdown haben ja viele Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Kirchengemeinden das Verbot, Präsenzgottesdienste abzuhalten, aus Solidarität mitgetragen, und sie haben sich schnell auf digitale Angebote eingelassen. Seit den ersten Lockerungen wurde die Debatte etwas schärfer. Ein häufiges Argument war, das Grundrecht auf Ausübung der Religionsfreiheit dürfe nicht eingeschränkt werden. Das gilt zwar, wenn Verfolgung herrscht - aber die Pandemie ist keine Verfolgungssituation. Die christliche Religion ist darauf angelegt, körperlich gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Aber wenn das gerade nicht möglich ist, muss man eben eine Weile in anderer Form zusammensein. Präsenz ist wichtig, aber Kirche kann auch digital bei den Menschen sein.
Ist der Geist Gottes nicht nur beim Präsenzfeiern dabei?
Jahnel: Im Gottesdienst geschieht ja nichts Magisches! Für Präsenzgottesdienste sprechen andere Argumente, gerade das Soziale in seiner religiösen oder seelsorglichen Dimension. Man möchte einfach zusammensein, die digitale Übergangsmöglichkeit ersetzt nicht das physische "zwei oder drei".
"An der Fülle des Lebens ist der Körper entscheidend beteiligt"
Was bedeutet der Glaube an die leibhaftige Auferstehung Christi für das christliche Körperverständnis?
Jahnel: Die Evangelien und die Paulusbriefe haben das Verständnis des Körpers und des Leibes subversiv uminterpretiert. Erst wird Gott Mensch, dann stirbt der Mensch, um leiblich auferweckt zu werden und physisch ganz nah zu sein, wie die Geschichte des Jüngers Thomas zeigt. Schließlich fährt er leiblich auf, und es wird die leibliche Auferstehung des Menschen verkündet. Das sind enorme physische, kulturelle und religionspolitische Grenzüberschreitungen. Kein Wunder, dass die Theologie seit 2000 Jahren zu verstehen versucht, was es damit auf sich hat. Die Auferstehung in dem Sinne, dass wir mit dem Körper, den wir jetzt haben, auferstehen, wird heute kaum mehr vertreten.
Welchen Körper würden Sie sich für die Auferstehung aussuchen?
Jahnel: Tja - den, als ich süße 16 Jahre alt war, oder den, an dem ich schon Zipperlein spüre? Leibliche Auferstehung ist mehr. Der Körper ist das Objekt in der Welt, der Leib ist der Körper mit Bewusstsein, das denkt und fühlt und auf den anderen und die Umwelt ausgerichtet ist. Beim Leib ist mein ganzes Ich, sind meine Beziehungen, Erfahrungen, Spüren, Denken, Erinnern, Hoffen, die Kontinuität meines Lebens mit der Welt dabei. Leib und Leben haben den gleichen Wortstamm. An dieser Fülle des Lebens im Hier und Jetzt ist der Körper mit seinen sinnlichen Erfahrungen entscheidend beteiligt. Aber leibhafte Auferstehung ist nicht einfach eine Fortsetzung der körperlichen Existenz. Wie die Auferstehung Christi vorauszeigt, ist es eine Verwandlung hin zur Lebensfülle.
"Ich gebe mir nicht selbst, mir widerfährt etwas"
Müssen, um an Ostern die leibliche Auferstehung angemessen zu feiern, die Kirchen nicht auf Präsenz bestehen?
Jahnel: Im Osterdialog im Johannesevangelium sagt Jesus zu Maria Magdalena: Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Ostern ist das Fest der körper-leiblichen Verwandlung, die uns hoffen lässt. Und es ist das Fest der Begegnung - in all unserer Verletzlichkeit, dem Wunsch zu berühren und berührt zu werden, der gegenseitigen Anerkennung. Die gemeinsame Feier in physischer Präsenz spricht dieses Körperwissen sicherlich am stärksten an. In der direkten Begegnung geschieht etwas, das widerfährt und unverfügbar bleibt. Auch und vielleicht gerade in Pandemie-Zeiten, da etwa im Freien mit Abstand Osternacht gefeiert wird, hinterlässt das eine Spur der Verwandlung.
Gibt es beim digitalen Abendmahl theologische Probleme?
Jahnel: Im katholischen Verständnis kann so die Wandlung nicht stattfinden. Doch auch im Protestantischen ist das Gemeinschaftsmahl zunehmend wichtiger geworden, das sich in der Form des Kreises ausdrückt: Man schaut sich an, in der Mitte ist Christus. Es ist das materiellste haptische Ereignis in der Kirche: Brot und Wein, "schmecket und sehet". Außerdem hat das Abendmahl einen Gabecharakter: Ich gebe mir nicht selbst, mir widerfährt etwas. Es geht um Aura, um Zwischenleiblichkeit, um den Blickkontakt mit dem Austeiler und den anderen Empfangenden. Und: Der Blick Gottes ist immer mit dabei und ruht auf uns: Gott lässt sein Angesicht leuchten.
"Auch die Taufe könnte digital gefeiert werden"
Lutherische Protestanten glauben auch, dass Christus im Abendmahl präsent ist.
Jahnel: Die Lehre von der Realpräsenz teilen sie mit den Katholiken: Wo Wein und Brot mit Wort und Glauben zusammenkommen, da ist Christus. Dagegen feiern Teile der reformierten Kirchen ein Gedächtnismahl, bei dem Brot und Wein Zeichen der Erinnerung sind. Beim digitalen Abendmahl tun sich Katholiken schwerer, weil sie vorher die geweihte Hostie beim Pfarramt abholen müssen. Teilweise wird auch mehr das Agape-Abendmahl gefeiert. Nach protestantischem Verständnis dagegen ist Abendmahl digital möglich und sollte auch gefeiert werden, wenn der Wunsch danach besteht. Wenn mir meine Tochter das Brot reicht, dann kann das "zwei oder drei" auch vor dem Computer klappen.
Wo hat digitale Kirche ihre Grenzen?
Jahnel: Sie bietet große Chancen in Zeiten, da nicht alle körperlich partizipieren können. Mit digitalen Angeboten kann man eine größere, übergreifende Gemeinde erreichen - aber auch die Pfarrgemeinde pflegen. Viele Gottesdienst- und Seelsorgeangebote werden gut angenommen. Grenzen sind dort erreicht, wo Kontakt notwendig ist: Menschen müssen physisch beerdigt werden. Also findet die Trauerfeier im kleinen Kreis statt - wobei es schon beglückend sein kann, den fernen Onkel über Handy dazuschalten zu können. Anders bei der Taufe: Sie besteht aus Wasser, Wort und Glauben. Aber auch die Taufe könnte digital gefeiert werden, wenn etwa bei den Taufworten der zugeschalteten Pfarrerin die Eltern oder ein Pate dem Täufling das Wasser über den Kopf gießt. Aber diese semi-digitale Taufe wird wohl kaum nachgefragt.
Sie haben Deutschlands einzigen Lehrstuhl für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit inne. Was macht man dort?
Jahnel: Wir forschen zur körperlichen Komponente von Religion. Die Herausforderung ist, Körperlichkeit verschiedener Kulturen mit Worten beschreibbar zu machen - etwa wie es sich anfühlt, zur Virgen de Guadalupe zu pilgern: Welches religiöse Wissen hat der Körper? Unser ganzes westliches Gesellschaftssystem ist auf den gesunden beziehungsweise kranken Körper angelegt. Dagegen will unser interdisziplinäres Forschungskolloquium unterschiedliche Deutungsmächte auf den Körper ins Gespräch bringen und ein übergreifendes Körperverständnis entwickeln. Im Westen haben Aufklärung und Rationalität unseren Umgang mit dem Körper stark geprägt, auch die Verneinung von Körperwissen. Doch die weltweite Alternativmedizin nimmt zu.
Auch im Westen wurde Religion schon körperlicher gelebt ...
Jahnel: Wie viel Blut und Fleisch zu sehen ist in Darstellungen von Christus oder Märtyrern! Auch die Passionsspiele in Oberammergau sind ein extrem körperlicher Kult - sie gehen ja auf das Erlebnis der Pest zurück. Der Schmerz ist die leibliche Erfahrung schlechthin. In unserer Forschung geht es um die Frage: Wieviel Körper braucht der Mensch, um Mensch zu sein?