Margot Käßmanns Gedanken zur Botschaft von Karfreitag
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Die Theologin Margot Käßmann teilt ihre Gedanken zur Botschaft von Karfreitag im Interview.
Gott straft nicht - er leidet mit uns
Die Theologin Margot Käßmann über Macht und Ohnmacht Gottes, die Botschaft von Karfreitag
Jeden Tag sterben Menschen, überall auf der Welt, längst nicht nur an Covid-19. Sie fallen Kriegen, Naturkatastrophen und Krankheiten zum Opfer, verhungern, verunglücken oder gehen an von Menschen gemachten Umweltkatastrophen zugrunde. Immer haben sich Menschen gefragt, warum so viel Leid in der Welt ist. Christen fragen, wo Gott in all dem Leid vorkommt und wieso er es zulässt - vor allem am Karfreitag. Leid ist ohne Sinn, davon ist die Theologin Margot Käßmann überzeugt. Als tröstlich empfindet sie es aber, dass auch Gott selbst, der nach christlicher Überlieferung seinen Sohn am Kreuz sterben sah, Leid kennt. Menschen sollten nicht erwarten, "dass Gott vor allem Leid schützt, sondern dass Gott dich im Leid begleitet".
02.04.2021
epd
INterview: Martina Schwager

Frau Käßmann, wir sind gerade in der dritten Welle der Corona-Pandemie angekommen. Wieder sterben jeden Tag Menschen. Andere sehen sich in der Existenz bedroht oder vereinsamen. Wo ist Gott in dieser Pandemie?

Margot Käßmann: Nach christlichem Glauben ist Gott nicht ein Gott, der Strafen schickt. Gott schickt keine Pandemie und auch keinen Tsunami. Ich denke, Gott ist an der Seite der Menschen, die nicht weiterwissen, die Kraft suchen und, ja, die Existenzängste haben. Gott begleitet diese Menschen gerade jetzt.

Warum lässt Gott Leiden zu?

Käßmann: Diese Frage ist so alt wie die Theologie und treibt die Menschen um. Gerade jetzt in der Passionszeit sehen wir, dass Jesus selbst leidet. Und wenn wir glauben, dass Jesus Gottes Sohn ist, dann kennt Gott selbst Leid. So schwer das zu begreifen ist: Gott kennt auch Ohnmacht gegenüber diesem Leid. Dietrich Bonhoeffer hat einmal gesagt: Gottes Allmacht und Ohnmacht zusammenzudenken, das bleibt Aufgabe der Theologie. Es gibt keine einfache Antwort zu dieser Spannung.

"Jeder wird eine Situation erleben, in der eben nicht alles gut ist"

Können Sie dennoch verstehen, wenn Menschen angesichts persönlichen Leids, Kriegen oder Naturkatastrophen mit Gott brechen?

Käßmann: Ich kann den Gedanken verstehen. Ich erinnere mich, dass ich als junge Pfarrerin einer Frau die Nachricht überbracht habe, dass ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Sie war sehr in der Gemeinde engagiert. Als erstes schrie sie: "Jetzt kann ich nicht mehr an Gott glauben." Ich denke aber, wer lange in den Glauben eingeübt ist, erwartet eben gerade nicht, dass Gott vor allem Leid schützt, sondern dass Gott dich im Leid begleitet, wie Jesus das am Kreuz sterbend gesagt hat: "Ich befehle meinen Geist in Deine Hände." Er hat sich noch im Sterben Gott anvertraut. Und hat sich nicht mit dem Schwert selbst vom Kreuz geholt.

Genauso hat Jesus aber, bevor er starb, auch am Kreuz geschrien: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Käßmann: Und das ist doch so bewegend, dass Jesus selbst diese Verzweiflung kennt. Ich denke, im Leben wird jeder Mensch eine Situation erleben, in der eben nicht alles gut ist, weil wir Tod erleben, Krankheit, Unfälle, Verzweiflung, Ängste, Depressionen. Aber für mich ist im christlichen Glauben gerade stark, dass wir nicht glauben, das ist von Gott geschickt, sondern dass Gott uns gerade in diesen Zeiten Kraft gibt.

Für mich gibt es keinen Sinn im Leid. Ich möchte keinen Sinn in ein Leid hineininterpretieren. Das fände ich für die Menschen, die Leid ertragen müssen, geradezu zynisch. Da kann ich mich einfach nur dazusetzen und versuchen, es mit auszuhalten. Ich habe erlebt, dass gepredigt wird: Wenn du genug betest, wirst du gesund, reich, ein glücklicher Mensch. Das finde ich zynisch.

"Wir können darauf vertrauen, dass wir im Leid Kraft bekommen"

Wie sollen Menschen das verstehen? Gott ist allmächtig, der liebende und behütende - und dennoch ohnmächtig dem Leid gegenüber?

Käßmann: Vielleicht können wir das tatsächlich mit einem positiven Vater- oder Mutterbild in Einklang bringen. Eltern wollen ihre Kinder schützen. Aber manchmal können Eltern ihre Kinder nicht schützen in dieser Zeit und in dieser Welt. Und mit diesem Schmerz müssen wir leben. Wir sollten klar sagen: Es gibt kein leidfreies Leben. Und auch wenn du glaubst, heißt das nicht, dass du ohne Leid durch diese Welt kommst. Das Leben ist sehr verletzlich.

Jeden und jede von uns kann das treffen. Aber wir können darauf vertrauen, dass wir in diesem Leid Kraft bekommen. Ich denke dabei oft an Paul Gerhardt, der so schöne Lieder gedichtet hat, in denen aber auch immer vorkommt, dass es nicht einfach ist. Er hat im Dreißigjährigen Krieg selbst furchtbares Leid erlebt, den Tod der eigenen Kinder, der Ehefrau.

Verstehen Sie es, wenn Menschen darum beten, dass Leid ihnen erspart bleiben möge? Und dass sie verzweifeln, wenn die Krankheit, der Unfall, die Katastrophe sie dann doch treffen?

Käßmann: Das verstehe ich natürlich. Ich bete auch, dass die Menschen, die ich liebe, beschützt sind. Es heißt ja: Wenn ein Flugzeug in Turbulenzen gerät, gibt es keine Atheisten mehr an Bord. Das hat mir immer eingeleuchtet. In der großen Angst schreit auch der letzte Atheist noch: Lieber Gott hilf mir. Aber wir leben in einer Welt, die wir als Christen "unerlöst" nennen, in der eben nicht alle Tränen abgewischt sind. Unsere Hoffnung ist, dass es eines Tages bei Gott in einer anderen Welt Not, Leid und Geschrei und auch den Tod nicht mehr geben wird.

Hadern wir auch deshalb heute mit dem Leid, weil wir das Thema wegdrängen?

Käßmann: Wir tanzen da ein wenig auf dem Vulkan. Die Gesellschaft ist auf Jungsein, Kraft, Sport und '"Wir wollen etwas erleben" programmiert. Sie will sich keine Zeit mehr dafür nehmen, Sterbende zu begleiten, der Trauer Zeit zu geben. Und das ist schon ein trauriges Signal.