Das kleine rote Sparkassenbuch hat seinen letzten Eintrag im Jahr 1963. Eingezahlt wurden 500 D-Mark. Die in Stuttgart wohnende Besitzerin erinnert sich nicht einmal mehr daran, auch wenn sie es am 30. November - ihrem 82. Geburtstag - erstmals wieder in Händen hielt. Ein badischer Theologe hatte es ihr nach einer ungewöhnlichen Personensuche via Internet persönlich überreicht. Laut seiner Rechnung müsste das Guthaben mit Zins und Zinseszins heute 1.377 Euro betragen.
Doch der Reihe nach: Volker Wahlenmeier ist Pfarrer der Kirchengemeinde im badischen Aglasterhausen nahe Heidelberg. Bei der Durchsicht seiner Privatbibliothek greift er im Herbst zu einer uralten Biografie über Martin Luther, die er als Student von einem Ruhestandspfarrer geschenkt bekommen, aber nie gelesen hat. Beim Blättern durch den Wälzer fällt dem 44-Jährigen plötzlich ein Sparbuch aus dem Jahr 1963 in die Hand, ausgestellt von der Heidelberger Kreissparkasse auf den Namen Doris Stecher. Aus dem Büchlein geht hervor, dass sie zunächst Studentin und dann Lehrerin gewesen war.
Die Spur führt nach Württemberg
In einem am 15. November veröffentlichten YouTube-Video bekennt der Pfarrer, dass in ihm erst "finstere" Gedanken aufgetaucht seien. Nämlich: wie er selbst an das Geld herankommt. Aber das Gewissen regt sich schnell, und so will er die rechtmäßige Besitzerin ausfindig machen. Also ruft er die Internetgemeinde bei der Fahndung zur Hilfe. "Doris, ich habe Dein Geld. Bitte melde Dich bei mir", sagt er in die Kamera.
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Zehn Tage später lädt Wahlenmeier das nächste Video hoch. "Wir haben Doris gefunden", jubelt er und präsentiert im Film das Telefonat mit ihr. Wertvolle Hinweise hat er vom Großvater einer Konfirmandin bekommen. Demnach hatte die junge Doris Stecher im April 1963 einen württembergischen Pfarrer geheiratet und war mit ihm nach Marbach am Neckar gezogen. Der Marbacher Dekan Ekkehard Graf half Wahlenmeier dann bei weiteren Recherchen. Ergebnis: Die Besitzerin heißt Doris Söhner, ist seit zwölf Jahren Witwe und lebt in einer Stuttgarter Seniorenresidenz.
Von der Studentin zum Verdienstkreuz
Doris Söhner ist in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg keine Unbekannte. Sie hat sich unermüdlich im Gustav-Adolf-Werk für die Partnerschaft mit den Lutheranern im russischen Samara eingesetzt und acht Mal eine Reisegruppe in die Wolgastadt geführt. In Stuttgart gründete sie den Dienst der Grünen Damen, die ehrenamtlich in Kliniken und Altenheimen Menschen besuchen und begleiten. Ausgezeichnet wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz, der landeskirchlichen Brenz-Medaille, dem baden-württembergischen Landesverdienstkreuz und dem Goldenen Kronenkreuz der Diakonie. Ihr Sohn Johannes Söhner ist Mitglied der württembergischen Landessynode.
Am 30. November, ihrem 82. Geburtstag, kam es nun zur persönlichen Übergabe des vergessenen Sparbuchs. Wie es in die Luther-Biografie geriet, kann sich Doris Söhner kaum erklären. "Ich habe vermutlich für mein zweites Staatsexamen etwas in dem Buch gesucht, bin vielleicht unterbrochen worden und habe das Sparbuch als Lesezeichen hineingelegt", sagt sie dem Evangelischen Pressedienst. Aber erinnern könne sie sich an den Moment nicht mehr, und sie habe dieses Geld nie vermisst.
Womöglich war's der erste Lohn
Und was hat es mit den 500 D-Mark auf sich? Doris Söhner weiß, dass das ein Monatsgehalt für eine Lehrerin war. Möglicherweise habe sie ihren ersten Lohn zur Sparkasse gebracht und in den Umtrieben der Hochzeit nicht mehr daran gedacht. Mit dem Geldinstitut hat sie nun aber Kontakt aufgenommen und das Büchlein per Einschreiben nach Heidelberg geschickt. Ob sich der ehrliche Finder, Pfarrer Wahlenmeier, bei seiner Zinseszinsrechnung verkalkuliert hat, wird sie in den nächsten Tagen erfahren. Da soll ihr der aktuelle Wert des Guthabens mitgeteilt werden.
Wahlenmeier hat von der Begegnung mit der betagten Witwe wiederum ein Video gedreht. Auch dieses erscheint, wie die anderen, auf dem YouTube-Kanal seiner Gemeinde. Das Geld kommt der alten Dame, die aufgrund mehrerer Operationen beim Gehen eingeschränkt ist, im Augenblick gerade recht. Sie will in den Weihnachtsferien etwas mit ihren sechs Kindern unternehmen und zwei Häuser in einem Feriendorf mieten, falls die Corona-Regeln ihr keinen Strich durch die Rechnung machen.