Eine Minderheit von evangelikalen Christen ist nach Einschätzung des evangelischen Theologen Michael Diener ansprechbar für die "Querdenker"-Bewegung. Diese Gruppe von Menschen mit einem evangelikalen Glaubensprofil sei "klein, aber doch sichtbar", sagte Diener dem Evangelischen Pressedienst. Am 18. November hatte die Polizei im Berliner Regierungsviertel eine Demonstration gegen das Infektionsschutzgesetz, die von den "Querdenkern" angemeldet worden war, aufgelöst, weil die Demonstranten gegen die Hygieneregeln verstoßen hatten. Unter den Demonstranten waren auch Christen aus dem evangelikalen Spektrum. Auch bei ähnlichen Demonstrationen waren in den vergangenen Wochen christliche Teilnehmer vertreten.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Menschrechtspolitiker Frank Heinrich verteidigte das Verhalten der christlichen Demonstranten in Berlin. Ihm sei nicht bekannt, dass sich diese den Sicherheitskräften vor Ort widersetzt hätten. Auch im Vorfeld seien es nicht die Teilnehmer aus dem christlichen Spektrum gewesen, die gedroht hätten, Bundestagsabgeordnete an der Abstimmung zu hindern. Es gebe zwar ein gemeinsames Anliegen der Demonstranten, gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung zu protestieren, jedoch aus unterschiedlichen inhaltlichen Gründen und mit unterschiedlichen Methoden.
Wahrnehmung als Verlierer
Ein Grund für die Nähe mancher Christen zu den "Querdenkern" kann laut Diener sein, dass sich diese Gruppe bedingt durch die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen nicht mehr durch die momentane Regierung repräsentiert sehe. "Das hat mit den üblichen Reizthemen wie Abtreibung, 'Ehe für alle', der Israelpolitik, der Zuwanderung von Muslimen im Zuge der Flüchtlingswelle und mit der Politik der offenen Grenzen statt kultureller Integrität zu tun." Es gehe aber auch mit einer Elitenkritik einher, weil sich diese Personen als Verlierer des Wandels wahrnähmen. "Und wer sich nicht mehr vertreten weiß, ist schon aus Prinzip gegen Änderungen und Einschränkungen", sagte Diener, der im September als Präses des Gnadauer Gemeinschaftsverbands verabschiedet worden war.
Aus theologischer Perspektive gebe es außerdem unter manchen der Demonstranten eine Auslegung, die Jesu Warnung vor den Zeichen der Zeit aufgreife und demokratische Einschränkungen als Beginn einer antichristlichen Welteinheitsregierung deute, sagte Diener. Gegenargumentationen würden diese Menschen aber oft nicht erreichen.
Erinnerung an Benachteiligung in der DDR
Diener ist auch Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und war von 2012 bis 2016 Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, die als Netzwerk der evangelikalen Bewegung in den evangelischen Landeskirchen, Freikirchen, Gemeinschaften und freien Werken fungiert. Die Evangelische Allianz hatte sich vor der Demonstration in einem Brief an ihre Mitglieder gewandt und davor gewarnt, das Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 zu vergleichen.
Heinrich, der seinen Wahlkreis in Chemnitz hat und sich auch für die Evangelische Allianz engagiert, sagte, bibeltreue Christen aus dem Erzgebirge seien zu Zeiten der DDR wegen ihres Glaubens oft benachteiligt worden. "Manche haben mir berichtet, wie sie sich während der Einschränkungen etwa im Frühjahr im Blick auf das Feiern von Gottesdiensten an diese Zeit erinnert gefühlt haben." Er betonte, dass es Gegner und Befürworter der Pandemie-Schutzmaßnahmen in allen Bereichen der Gesellschaft gebe - und daher auch unter Evangelikalen - dass aber längst nicht alle Evangelikalen wegen ihres Glaubens die Maßnahmen von Bund und Ländern ablehnten.