Die Sitzbänke im Foyer des Hannah-Arendt-Gymnasiums Barsinghausen sind gesperrt. Auf den Fußboden geklebte Pfeile regeln die Laufwege im Einbahnstraßensystem. Die Türen zu den Klassenräumen stehen offen, im Unterricht müssen Schüler und Lehrer Masken tragen. Schulalltag im November. Schulseelsorgerin Nele Schweitzer nimmt die Maske schweren Herzens auch im Beratungsraum nicht mehr ab. "Für ein Beratungsgespräch braucht es eigentlich besonders die Mimik", sagt die Lehrerin für Deutsch und Evangelische Religion.
Schweitzer gehört zu den rund 300 Schulseelsorgerinnen und Schulseelsorgern in Niedersachsen, die eine entsprechende kirchliche Zusatzausbildung abgeschlossen haben. Gemeinsam mit zwei Beratungslehrkräften und eine Sozialpädagogin hat sie während der Schulschließungen im März am Hannah-Arendt-Gymnasium erstmals besondere Unterstützung angeboten. "Wir wollten den Schülerinnen und Schülern Mut machen", sagt die 28-Jährige.
Das Team schrieb Briefe, gab Tipps zur Alltagsbewältigung, Knobelaufgaben oder Entspannungsübungen und war für Gespräche erreichbar. Den Lehrkräften wurde zudem ausnahmsweise die Kommunikation über den Kurznachrichtendienst WhatsApp erlaubt. "Das haben die Schüler stark genutzt, die Hemmschwelle ist einfach viel niedriger", berichtet Schweitzer. Viele schoben schulische Themen vor, hinter denen sich oft weiterer Gesprächsbedarf verbarg.
So wie bei Gabi (Name geändert), zwölf Jahre, die eine Mail an fast alle ihre Lehrerinnen und Lehrer schrieb. Sie kam mit den Aufgaben für das heimische Lernen und der anfangs uneinheitlichen digitalen Kommunikation nicht klar. Nele Schweitzer bot ihr als Religionslehrerin Hilfestellung an - und als Schulseelsorgerin das persönliche Gespräch. Die Sechstklässlerin nahm dankend an und erzählt: "Wir haben dann einmal die Woche telefoniert und sie hat mir nicht nur erklärt, wie ich die Aufgaben erledigen kann, sondern auch mit mir überlegt, was ich noch für andere Sachen als Schule machen kann."
Erfahrungen und Erlebnisse verarbeiten
Mit handfesten Zukunftsängsten haben hingegen die älteren Schüler zu kämpfen. Müssen wir unsere Vorabi-Klausuren mit Maske schreiben? Wird unser "Corona-Abi" weniger wert sein? Was wird aus dem geplanten Studium? Auch auf solche Fragen muss Nele Schweitzer reagieren. Noch dazu fallen viele Ereignisse flach, die das Leben eines jungen Menschen prägen: der 18. Geburtstag, die Studienfahrt, der Abiball. "Mal ehrlich, wer hat noch alle Unterrichtsinhalte parat? Aber an den Abiball können wir uns erinnern", sagt die Lehrerin.
Um den Schülern Raum für ihre Erlebnisse und Erfahrungen in schwieriger Zeit zu geben, habe man für alle Schüler eines Klassenverbandes Gemeinschaftsunterricht aus Religion und Werte und Normen angeboten. "Es ist gut, dass wir diese Zeit hatten", sagt Nele Schweitzer. "Hier konnten wir zum Beispiel über Verschwörungstheorien oder die Corona-Demo in Hannover diskutieren."
Lernstoff nachholen hat Priorität
Die Aufarbeitung der vorangegangenen Wochen kam nach Ansicht von Schulseelsorgern nach der Öffnung der Schulen zu kurz, weil in den Hauptfächern Versäumtes nachgeholt werden musste. Das hat eine Umfrage ergeben, die Bettina Wittmann-Stasch, Dozentin für Schulseelsorge am Religionspädagogischen Institut Loccum (RPI), mit Kollegen aus Deutschland und Österreich sowie dem Comenius-Institut durchgeführt hat.
Auch viele Berufsschüler blicken verunsichert in die Zukunft, wie Tobias Sochocki weiß. Der Schulseelsorger an der BBS Brinkstraße in Osnabrück berichtet von mehreren Betrieben, die ihre Schüler aus Angst vor der Ansteckung am liebsten nicht in die Berufsschule schicken würden. Die meisten Gespräche an der BBS mit mehr als 4.500 Schülern fänden zwischen Tür und Angel statt, erzählt der 42-jährige Maschinenbauingenieur, der nach seinem Diplomstudium als Quereinsteiger Berufsschullehramt studierte - mit Theologie als Zweitfach. "Wenn jemand ganz langsam die Sachen zusammenpackt und zum Ausgang schlurft, hat er oft Gesprächsbedarf." Für viele sei aktuell fraglich, ob sie nach der Ausbildung übernommen werden. "Bei Schülern, die Depressionen haben, haben sich die Probleme durch Corona eher verstärkt", ist Sochocki überzeugt.