Vor 500 Jahren erschien Martin Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Wie würden sie seine damalige Lebenssituation beschreiben?
Christopher Spehr: Als Luther im Oktober 1520 diese Schrift verfasste, kreiste über ihm bereits der Bannstrahl aus Rom. In der päpstlichen Bannandrohungsbulle vom Sommer 1520 war er als Ketzer bezeichnet und letztmalig aufgefordert worden, seine Lehre zu widerrufen. Der Wittenberger Theologieprofessor widerrief nicht, sondern schrieb 1520 um sein Leben. Die Hoffnung auf eine Reform der Papstkirche war für ihn aussichtslos. Zwar verfasste er noch einen versöhnlich-diplomatischen Brief an Papst Leo X., doch wirkliche Hoffnung machte sich Luther nicht mehr. Stattdessen forderte er die weltliche Obrigkeit auf, die Reform der Kirche nun selbst in die Hand zu nehmen. Die Freiheitsschrift war Ausdruck von Luthers neuer, evangelischer Überzeugung: Der Mensch ist frei von menschlichen Bindungen durch den Glauben an Jesus Christus. Diese Freiheit erstreckt sich auch auf die Satzungen und Forderungen der damaligen Papstkirche, die von Menschen gemacht sind.
Der Text erschien in deutscher und ausführlicher in lateinischer Sprache. An wen waren die beiden Varianten adressiert?
Spehr: Luther wollte mit dieser Schrift möglichst viele Leser erreichen. In Latein schrieb er für das gelehrte und internationale Publikum, auf Deutsch für die lesefähige deutschsprachige Bevölkerung. Beide Schriften erlebten zahlreiche Auflagen und Nachdrucke. Besonders die deutschsprachige wurde zu einem der bekanntesten und wirkmächtigsten Texte der Reformationszeit. Der hierin entfaltete Gedanke der christlichen Freiheit fand sowohl unter Gelehrten als auch im Volk breite Aufnahme. Er beschleunigte die Entstehung der reformatorischen Bewegung.
Die unterdrückten Bauern der Zeit griffen Luthers Ideen auf. Nahmen sie ihn zu wörtlich?
Spehr: Er fühlte sich in der Tat missverstanden. Als sich die Bauern 1525 auf Luther und die christliche Freiheit beriefen, warf er ihnen vor, die christliche Freiheit für eigene Zwecke zu missbrauchen. Christliche Freiheit führe aber nicht ins Chaos, sondern gründe auf dem Glauben und bewähre sich in der Liebe, hielt er ihnen entgegen.
"Gelebt wird die befreite Gottesbeziehung im Glauben"
Oft wird aus der Streitschrift zitiert: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan" und "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Was hat Luther damit gemeint?
Spehr: Die Doppel-These ist das Kernstück der Freiheitsschrift. Auf dem ersten Blick ist sie widersprüchlich. Aber beim näheren Hinsehen entfaltet sich der Zusammenhang. Ausgehend von Paulus in Galater 5, 1 und 13 hebt Luther hervor: der Christenmensch ist von allen äußeren Zwängen frei durch das Evangelium von Jesus Christus. Die frohe Botschaft von der Gnade Gottes befreit den inneren Menschen. Gelebt wird die befreite Gottesbeziehung im Glauben...
...eben als freier Herr...
Spehr: ...genau. Aus der neu gewonnenen Freiheit ergibt sich aber auch eine verantwortungsvolle Neugestaltung des Verhältnisses zum Mitmenschen und zu sich selbst. Als Frucht des Glaubens verändert die Liebe das menschliche Miteinander zum Guten. So ist aus Liebe der Christenmensch ein "dienstbarer Knecht aller" und jedermann untertan. Eben nicht als Duckmäuser oder Buckeldiener, sondern als Befreiter.
Das gilt so noch immer?
Spehr: Auch heute hat die Freiheit im Horizont von Glaube und Liebe nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Es tut gut zu wissen, dass ich im Glauben von den weltlichen Zwängen, Problemen und Herausforderungen befreit bin und sie mich nicht zu sehr belasten müssen. Es ist aber auch notwendig zu erinnern, dass ich um der Liebe zu meinen Mitmenschen so handle, dass es ihnen zum Guten dient. So nützt in Corona-Zeiten etwa der Mund-Nase-Schutz nicht in erster Linie mir selbst, sondern er dient zum Schutz für die anderen.
Frei ist nach Luther nur, wer gewissermaßen amtlich glaubt, also getauft ist. Schließt dieser Freiheitsbegriff damit - gerade heute - nicht große Teil der Gesellschaft aus?
Spehr: Es geht Luther gerade nicht um einen "amtlichen" Glauben, sondern um das Evangelium. Dies befreit - und nicht die Kirche. Die Taufe ist der Ort, an dem Gott dem Menschen sein bedingungsloses Ja zuspricht. Dieses Ja gilt - auch wenn der Glaube in Krisen gerät oder die Person aus der Kirche austreten sollte. Taufe ist somit keine Hürde, sondern eine Einladung zur Freiheit. Der christliche Freiheitsbegriff schließt niemanden aus, sondern lädt ein, das Leben in Glaube und Liebe zu leben. Er zielt auf Verantwortung und ein gelingendes Miteinander in den Bezügen des Lebens. Diese Freiheit ist nie aus sich selbst hervorgehende, autonome Freiheit, sondern stets an Gott gebunden. Darin unterscheidet sich Luther von dem neuzeitlich-aufgeklärten Freiheitsverständnis.
"Christliche Freiheit kommt aus dem Glauben und erfährt in der Liebe ihre Gestalt"
Also kann ich, solange ich glaube, alles tun, mir alles erlauben?
Spehr: Nein, ganz im Gegenteil. Es geht bei der christlichen Freiheit doch um Glaube und Liebe. Beide gehören zusammen. Oder wie Luther es in der Freiheitsschrift sagt: "Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe." Wenn der Glaube aber absolut gesetzt und die Liebe ausgeklammert wird, ist die Freiheit in ihr Gegenteil verkehrt. Denn: Christliche Freiheit kommt aus dem Glauben und erfährt in der Liebe ihre Gestalt.