Dies ist der zweite Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie*. Nach einer grundsätzlichen Einführung in das Thema befasst sich ein dritter Teil mit Polyamorie in Theologie und Kirche.
In diesem Teil unserer Polyamorie-Themenreihe (*) lassen wir Menschen, die selbst polyamor leben, zu Wort kommen. In den Interviews wurden Themen wie eigene Beziehungsgestaltung, Identität, rechtliche und theologische Fragen sowie Wünsche an die Kirche angesprochen. Außerdem stellen wir den Verein "NepoMuK – Netzwerk polyamore Menschen und Kirche" vor.
Sophia M. lebt seit fünf Jahren in einer Beziehung, die seit zwei Jahren "geöffnet" ist. Für sie und ihren Partner ist klar: Wenn sich eine:r von beiden in jemanden drittes (oder viertes) verliebt, ist das kein Trennungsgrund. M. und ihr Partner entschieden nämlich vor zwei Jahren, dass weitere Partner:innen ins Leben kommen dürfen – im Einverständnis aller versteht sich. Für alle Beteiligten bedeute dies: lange Gespräche, viel Selbstreflexion und starkes Aufeinander-Zugehen.
Sie werde oft gefragt, warum sie so lebt, berichtet Sophia M. Schließlich ist für viele Menschen ein Beziehungsmodell jenseits des heteropatriarchalen Monogamie-Mainstreams nicht denkbar. Doch Sophia M. habe sich in ihren Beziehungen auch früher schon öfters in andere Menschen verliebt und sich nie wirklich monogam gefühlt. "Ich habe mich dann immer gleich getrennt; ich habe das nicht in Betracht gezogen, dass das ein lebbares Beziehungskonstrukt sein kann: mit mehreren Personen", erklärt Sophia M.
Irgendwann wurde Sophia M. klar, dass – wenn sie sich in eine weitere Person verliebt – sie den Menschen, mit dem sie zusammen war, auf keinen Fall verlassen wollte. Und auch ihr Partner wollte und will das nicht. "Früher war ich nie glücklich. Jetzt ist es das erste Mal, dass ich sage: Ich lebe das Beziehungsmodell, mit dem ich selbst gut klarkomme", erklärt M.
Sie erzählt, dass sie einige Zeit zu dritt im Pfarrhaus gewohnt habe. Das hat damals für sie und ihre zwei Partner gut gepasst.
Obwohl es ihrer Identität entspricht, nicht monogam zu leben, muss Sophia M. der Gemeinde gegenüber ihre Art zu l(i)eben verschweigen: "Zwei Presbyter:innen in meiner Gemeinde wissen, dass ich poly lebe, auch meine engen Pfarrfreund:innen wissen es, aber sonst niemand."
Sich als poly lebender Mensch vor anderen verstecken zu müssen, kennen auch viele Mitglieder des "Netzwerk polyamore Menschen und Kirche – NepoMuK", das seit 2019 interessierte und engagierte Menschen verschiedener christlicher Konfessionen zusammenbringt.
Auf der Webseite des Vereins, der von Menschen, die ethisch-nichtmonogam leben oder Verbündete sind, gestaltet wird, heißt es: "Unser Ziel ist es, ein Netzwerk aufzubauen, um polyamor lebende Christ*innen miteinander zu verbinden und sichtbar zu machen. Dabei ist es uns wichtig, in beide Richtungen Informationen zu vermitteln: polyamoren Menschen nahebringen, wie bereichernd der christliche Glaube sein kann, und Christ*innen darüber informieren, wie die polyamore Lebensweise zu unserem Glauben passt."
Die Juristin Leonie Groß-Usai hat "NepoMuK" mitbegründet und ist inzwischen Vorsitzende des Vereins. Sie lebt selbst polyamor und promoviert an der Universität Bonn in den Rechtswissenschaften zu rechtlicher Absicherung nach Trennungen in polyamoren Beziehungen.
Groß-Usai erzählt im Interview mit kreuz & queer über die Gründung des Vereins vor fünf Jahren: "Eine Person hat sich drei Tage allein auf den Kirchentag in Dortmund gestellt und dort Verbündete gesucht. Als ich dort vorbeikam, war ich gleich Feuer und Flamme, dass Kirche und Polyamorie zusammen gedacht wurden. Beides ist nämlich wichtig in meinem Leben." Groß-Usai habe daraufhin einen ihrer Partner motiviert, "und so haben wir zu gerade mal siebt ein paar Monate nach dem Kirchentag den Verein gegründet". Corona habe das Vereinswachstum etwas gedämpft, "aber seit dem Kirchentag in Nürnberg letztes Jahr, wo wir sogar Workshops zum Thema angeboten haben, boomt es", schwärmt Groß-Usai.
Bei "NepoMuK" bringt Leonie Groß-Usai neben ihrem juristischen Wissen auch die Motivation ein, Kirche zu gestalten. Denn Kirche war ihr seit der Teenagerzeit ein wichtiger Ort. Seither ist sie in einem Jugendverband ehrenamtlich tätig, gestaltet Freizeiten, Seminare, und Bildungsangebote mit. "Die Arbeit dort hat meine enge Bindung zu Kirche begründet; dort wurden Glaubensfragen für mich besser beantwortet als in einer Pfarrgemeinde." Die Jugendarbeit habe sie in ihrem Glauben gefestigt, denn dort konnte sie für sie lebensrelevante Themen einbringen – damals als Jugendliche seien es Fragen zum frühen Tod geliebter Menschen und zu queerer Identität gewesen.
Nicht nur der Glaube ist identitätsstiftend für Leonie Groß-Usai, sondern auch die ethisch gelebte Nicht-Monogamie. Sie sehe Polyamorie vergleichbar mit einer sexuellen Orientierung. "Mit dieser Lebensweise kann ich mich voll identifizieren, so lebe ich!", erklärt Groß-Usai, die bereits seit rund zehn Jahren poly lebt.
Sie erzählt über ihr Polykül: "Ich habe inzwischen zwei primäre Partner und erweitere das gerade auf ein Familienkonstrukt. Meine beiden Partner sind gut befreundet miteinander, und potenziell haben sie auch weitere Partner:innen, im Moment allerdings nicht."
Ähnlich wie Leonie Groß-Usai planen und verwirklichen immer mehr Menschen ihren Kinderwunsch in Mehrfachbeziehungen. Genauso unterschiedlich wie Beziehungen sind, sind auch diese Familienkonstrukte. Kinder haben dann oft mehr als zwei soziale Elternteile – oder zumindest mehr Bezugspersonen, die sich kümmern und Verantwortung übernehmen.
In Deutschland wird gerade an einem Gesetz gearbeitet, das solche und andere Verantwortungsgemeinschaften zwischen den Erwachsenen einschließen kann. Jedoch gibt es noch keinen konkreten Gesetzesentwurf.
Die Debatte rund um Mehrelternschaft in Deutschland sei schon älter, erklärt Juristin Groß-Usai. Tatsächlich gibt es einige rechtswissenschaftliche Doktorarbeiten und Habilitationen dazu. Viel geändert zum Modell der zwei Elternteile hat sich aber nicht in letzter Zeit. "Es gibt in Deutschland aber die sogenannte Sorgerechtsvollmacht; die kann einer dritten oder vierten Person erteilt werden, um gewisse Entscheidungen bezüglich Kinderobsorge – etwa beim Kinderarzt oder im Kindergarten – auch nach außen mitzutragen. Die Hierarchie zwischen den sozialen und den rechtlichen Eltern bleibt hier aber bestehen."
Groß-Usai fasst die Bereiche Polyamorie und Recht kurz zusammen: "Mehrfachehen sind fast überall auf der Welt verboten; Polyleben ist in Deutschland nicht verboten, gefördert wird es aber auch nicht. Und es gibt keinen eigenen Diskriminierungsschutz für Menschen, die poly leben."
Dass es Schutz vor Diskriminierung und sichere Räume für polyamor lebende Menschen braucht, weiß auch Pfarrerin Sophia M.: "Die Sprache in unserer Kirche ist oft so gewaltvoll", findet sie. "Ich würde mir wünschen, dass diese gewaltvolle Kommunikation, die auch Homosexuelle ertragen müssen, aufhört und dass Menschen aufhören, die Bibel aus ihrem Kontext zu reißen." M. sieht sich aufgrund ihrer polyamoren Lebensweise oft mit Feindseligkeiten konfrontiert, besonders wenn es um ihren Beruf geht. Dann kämen die Leute mit der Moralkeule. "Pfarrer:innen müssen voll die gläsernen Menschen sein, aber ich weiß ja auch nicht, was bei den Gemeindegliedern hinter den Gardinen passiert."
Einige abfällige Reaktionen auf Social Media auf unseren letzten Blogbeitrag zu Polyamorie hätten sie geärgert. "Dafür dass inzwischen kaum mehr jemand hier etwas auf die Kirche gibt und so viele Menschen austreten, sind sie dann plötzlich sehr moralingetränkt, wenn es um nicht-monogam lebende Menschen geht", moniert Sophia M., die bereit ist, auch Mehrfachbeziehungen zu segnen.
"Vielleicht sollte man stattdessen darüber reden, dass das ein Beziehungskonzept neben anderen ist, in dem man als erwachsener Mensch leben kann", findet Sophia M. Sie wünscht sich daher mehr Offenheit gegenüber verschiedenen Lebensmodellen. Es seien schließlich einvernehmliche Beziehungen. "Ich nehme niemandem den Partner oder die Partnerin weg, der oder die nicht gleichermaßen mit mir in diese Beziehung treten will. Ich zwinge ja niemandem etwas auf. Und nur aus Angst heraus das heteromonogame Ding zu leben, das über Filme und so weiter so überromantisiert ist, das finde ich nicht gut."
Auch Leonie Groß-Usai betont, dass Angst keine gute Zutat fürs menschliche Blühen ist. Sie bezieht sich dabei auf die Kirche, die allzu oft nur bei den Menschen sei, die "sie eh schon hat", in der Befürchtung diese zu verlieren. Dabei vergesse Kirche darauf, offen zu sein für Menschen mit verschiedensten Lebensrealitäten, darunter auch LGBTIQ und polyamore Menschen. Groß-Usai wünscht sich von Kirche ein klares Bekenntnis zu marginalisierten Personen und die Aufarbeitung von Gewaltstrukturen und Verletzungsgeschichten, die Menschen mit Kirche gemacht haben. "Ich wünsche mir von Kirche, dass sie sich auf urchristliche Dinge besinnt wie: Du bist angenommen, so wie du bist", plädiert Leonie Groß-Usai.
Die Annahme und die Liebe Gottes gegenüber allen Menschen sind Grundpfeiler der christlichen Anthropologie. Trotzdem werden immer wieder Menschen durch andere Menschen aus dieser unbedingten Liebe ausgeschlossen. Pfarrerin Sophia M. sieht ein Problem der kirchlichen Praxis darin, dass das Sprechen über die Gottesliebe oft gar nicht konkretisiert wird. Was sie wirklich bedeute, bleibe in einem vagen Raum. M.: "Liebe kann nur da entstehen, wo eine Gleichwertigkeit wahrgenommen wird. Es geht also auch um eine Gleichbehandlung. Das heißt, dass poly Beziehungen auch die gleichen Rechte haben sollen wie monogam lebende – das wäre wirklich gelebte Liebe." Polyamor zu leben, sei dabei nicht besser als monogam zu leben, es solle auch "nicht auf ein Podest gehoben werden". Aber Sophia M. macht klar: "Es ist nicht defizitär, mehr als einen Menschen zu lieben."
Auch Leonie Groß-Usai setzt auf die positiven Aspekte ihrer Lebensweise, die sie mit anderen im Verein teilt: "Bei 'NepoMuK' treffe ich auf viele tolle Menschen. Ich lerne sehr viel über Kirche, nicht nur wegen der Pfarrpersonen dort, sondern durch alle. Wir haben eine sehr schöne Gemeinschaft, die viel Hoffnung macht, Kirche weiter voranzubringen."
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(*) Neue Themenreihe Polyamorie
Die Leerstelle in Theologie und Kirche hinsichtlich der Beschäftigung mit Polyamorie und ethisch gelebter Nicht-Monogamie wollen wir in den kommenden Wochen und Beiträgen mit unserer "Themenreihe Polyamorie" füllen. Dazu haben sich Sonja Thomaier, ebenfalls für kreuz & queer schreibend, und ich zusammengetan. Sonja Thomaier ist wissenschaftliche Mitarbeiter:in an der Universität Hildesheim und forscht und promoviert dort in der Systematischen Theologie zu Queer Theologies. Sonja ist außerdem Pfarrperson im Ehrenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und ist im Team der Queersensiblen Seelsorge in Hannover tätig. Ich selbst bin evangelische Pfarrerin in Wien und als Hochschulseelsorgerin vor allem mit jungen Menschen arbeitend. Ich bin im Vorstand des Vereins "EvanQueer – queere Menschen in der Evangelischen Kirchen Österreichs" sowie Vorsitzende der Gleichstellungskommission der Evangelischen Kirche in Österreich.
Neben dem ersten Einführungsblog "Was ist Polyamorie?" und diesem Beitrag werden wir uns unter anderem auch der Gemeindearbeit, biblischen Perspektiven auf das Thema und der wichtigsten Literatur widmen sowie familienethische Betrachtungsweisen berücksichtigen.
Teil 3 "Polyamorie – eine familienethische Leerstelle" von Sonja Thomaier folgt am 9. Oktober (verschoben).
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Den Verein NepoMuK erreichen Sie hier: www.nepomuk-ev.de