Wer in Deutschland in die Geschichte seiner Ahnen eintauchen will, kommt an Kirchenbüchern kaum vorbei. Dort sind Taufen, Trauungen und Todesfälle akribisch notiert - und da in früheren Jahrhunderten nahezu alle Bürger auch Kirchenmitglieder waren, findet man in den Büchern sämtliche Namen. Seit fünf Jahren lassen sich viele der historischen Dokumente auch über das Internet einsehen: Das Kirchbuchportal "Archion" mit Sitz in Stuttgart stellt inzwischen 100.000 evangelische Kirchenbücher digital zur Verfügung.
Die Corona-Krise hat das Interesse an der Online-Ahnenforschung noch einmal beflügelt, beobachtet "Archion"-Geschäftsführer Harald Müller-Baur. Die Kirchenbücher lassen sich im Netz gegen Gebühr zu jeder Tages- und Nachtzeit lesen, der Blick hinein ist nicht durch Öffnungszeiten oder Hygieneregeln von Archiven oder Pfarrämtern beschränkt. Außerdem entstehen bei diesem Rechercheweg keine Reisekosten.
Kirchenbücher bieten für die Genealogie (Ahnenforschung) verlässliche Basisdaten: Wer wurde wann geboren, hat wen geheiratet, hatte wie viele Kinder, ist wann gestorben. Wie ein Detektiv zieht ein Genealoge Namenslinien über Generationen, entdeckt Querverbindungen und möglicherweise Verwandte, von denen er bislang nichts wusste. Manchmal enthalten die Bücher zudem Notizen, etwa zu den Todesursachen eines Menschen, was dann weitere Rückschlüsse auf die Familiengeschichte ermöglicht.
Akribische Recherche in den langen Namenslisten fördert immer wieder Faszinierendes oder Skurriles zutage. So meldete sich etwa beim Pfarramt im nordhessischen Rengshausen ein Soldat, den das Militär als Gefallenen des deutsch-französischen Kriegs 1870 deklariert hatte. "Da er noch lebe", ließ er seinen persönlichen Fortbestand von drei Bürgern amtlich beglaubigen. Im westfälischen Rahden beantragte 1780 ein Ehepaar die Scheidung, was in jener Zeit einem gesellschaftlichen Skandal gleichkam. Die beiden bereuten ihren Schritt allerdings und heirateten kurz darauf einander zum zweiten Mal.
Weniger als die Hälfte aller evangelischen Bücher erfasst
Seit der Gründung ist die Datenmenge bei "Archion" geradezu explodiert. Die 100.000 Kirchenbücher liegen auf 16 Millionen Einzelbildern vor, von denen statistisch im vergangenen Jahr jedes dreieinhalbmal aufgerufen wurde. Deshalb überrascht es nicht, dass die Kosten für die Datenverarbeitung rund ein Drittel des Gesamtbudgets von "Archion" ausmachen.
Heute gibt es in dem Unternehmen drei Vollzeitstellen, die von insgesamt sechs Mitarbeitern besetzt werden. Nach einer Startfinanzierung durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) muss sich die Firma selbst tragen. Die Nutzergebühren decken den laufenden Betrieb, sagt Geschäftsführer Müller-Baur.
Die Digitalisierung aller Kirchenbücher ist allerdings bei weitem noch nicht abgeschlossen. Müller-Baur schätzt, dass bislang weniger als die Hälfte aller evangelischen Bücher erfasst ist. Der Grund: Südliche Kirchen wie Württemberg und Baden konnten schon vor Jahrzehnten staatlich gefördert ihre Bücher auf Mikrofilm archivieren. Andere Kirchen, vor allem im Osten Deutschlands, haben diesen Prozess teilweise erst begonnen.
Kaum katholische Dokumente
Die Ökumene funktioniert bei den Online-Kirchenbüchern allerdings nicht. Zwar hat "Archion" aus der Pfalz auch katholische Dokumente archiviert, weil diese teilweise im Landesarchiv in Speyer lagern. Doch für andere Regionen sieht es dünn aus. Auf katholischer Seite hat das österreichische Portal "Matricula" die Marktführerschaft übernommen, dort wurden jüngst zum Beispiel 900 Kirchenbücher aus dem Bistum Augsburg hochgeladen.
Auch wenn inzwischen eine Fülle dieser historischen Dokumente digital vorliegt - allzu einfach darf man sich die Ahnenforschung via Kirchenbuch nicht vorstellen. Wichtigste Voraussetzung ist, alte Schriftarten wie die Sütterlin-Schrift lesen zu können. Ohne diese Fähigkeit ist man beim Blick auf Tauf- und Sterberegister verloren. Doch gibt es im Internet dazu kostenlose Kurse.
Namenssuche noch nicht möglich
Die alte Schrift verhindert bislang auch eine effektive Texterkennung durch den Computer. Das bedeutet: Die Recherche findet tatsächlich nur durch das Ansehen der fotografierten Buchseiten statt. Eine Namenssuche wie bei Google ist noch nicht möglich. Von den 6.000 Menschen, die "Archion" im vergangenen Jahr genutzt haben, kamen 84 Prozent aus Deutschland, der Rest überwiegend aus den USA.
Ab und zu entdeckt auch der studierte Archivwissenschaftler Harald Müller-Baur erstaunliche Perlen der Alltagsgeschichte in den alten Büchern: So heiratete ein evangelischer Pfarrer in Mehrstetten auf der Schwäbischen Alb im späten 17. Jahrhundert eine gebürtige Muslimin, die in den Türkenkriegen aus Belgrad verschleppt worden war. Die Frau musste allerdings zum Christentum übertreten, bevor sie den Theologen ehelichen konnte.