Pfarrer Uwe Gräbe, Verbindungsreferent Nahost der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS), ist in Stuttgart und dennoch mental mittendrin in Beirut. Nachrichten und Bilder von Mitgliedskirchen der EMS im Libanon erreichen ihn nach der Explosionskatastrophe am Dienstag in Beirut laufend. Er sieht, wie der Inhalt des Speichers, in dem sich ein Großteil des libanesischen Getreidevorrats befand, vermischt mit pulverisiertem Beton in einer Mondlandschaft zu liegen scheint. Gräbe hat eine persönliche Analyse der Situation im Libanon niedergeschrieben.
Eineinhalb Kilometer westlich der Explosionsstelle liegt die All Saints' Church der anglikanischen Diözese von Jerusalem und dem Mittleren Osten. Die Gemeinderäume im unteren Stockwerk wurden völlig verwüstet; der Kirchenraum im Stockwerk darüber blieb wie durch ein Wunder unversehrt.
Auch die Kirche der National Evangelical Church of Beirut (NECB) getroffen. Im belebten Geschäftsviertel Beiruts hat es die Near East School of Theology (NEST) erwischt, eine kleine theologische Hochschule, an der die evangelischen Kirchen des Libanon, Syriens, Jordaniens und Palästinas ihren Pfarrnachwuchs ausbilden. Noch nie sei die NEST so schwer getroffen worden, "nicht einmal in den schlimmsten Tagen des fünfzehnjährigen libanesischen Bürgerkrieges," berichtet Hochschulpräsident Professor George Sabra an Gräbe.
Die evangelischen Gemeinden im Libanon wissen bis Mittwochabend von nur einem verletzten Gemeindemitglied. "Und doch ist der Schock unübersehbar", schreibt Gräbe. Das Desaster habe Beirut zur denkbar schlechtesten Zeit erwischt.
Im Strudel einer Mehrfachkrise
Schon lange sei der Libanon im Strudel einer nicht enden wollenden Mehrfachkrise gefangen. Da sei die politische Krise: Seit dem 17. Oktober seien die Menschen gegen eine als durch und durch korrupt empfundene politische Klasse auf die Straße gegangen. Zweitens sei da die Wirtschaftskrise: Ebenfalls seit Oktober sei es kaum noch möglich, Geld von Bankkonten abzuheben und seit März sei das Land zahlungsunfähig. Die Stromversorgung sei zusammengebrochen und Krankenhäuser auch. Eine Hyperinflation habe das Land erfasst. Die Preise seien explodiert, die Arbeitslosigkeit ausgeufert, und immer wieder sei von Familienvätern zu hören, die Suizid begehen - aus Scham, weil sie ihre Familien nicht mehr ernähren können.
Die dritte Krise sei: Der Libanon befinde sich nach anfangs sehr guten Erfolgen im Kampf gegen das Corona-Virus inzwischen mitten in einer zweiten Welle; jeden Tag würden neue Höchststände an Infektionen erreicht. Viele Krankenhäuser wurden jetzt durch die Detonation verwüstet. Als vierte Krise gebe es die spannungsgeladene Situation an der israelisch-libanesischen Grenze.
"Ein unachtsames, korruptes, dysfunktionales System"
"Man mag zusätzlich zu diesen vieren noch weitere Krisen nennen: die Situation der syrischen Flüchtlinge im Libanon etwa, die ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Die Lage in den palästinensischen Flüchtlingslagern. Und so vieles mehr...", schreibt Gräbe. "Kurz: Es ist zu viel, als dass der Libanon auch noch diese Katastrophe schultern könnte."
Die Gerüchte, die gleich nach der Detonation "wie die Partikel der Staubwolke durch Beirut wirbelten", sagten viel aus über die Lage, resümiert der kirchliche Nahostexperte. Da spekulierten die einen, es sei eine israelische Rakete gewesen, die ein Waffendepot der Hisbollah am Hafen in die Luft gejagt habe. Nein, sagten andere, vielmehr seien es staatlicherseits konfiszierte Waffen und Sprengstoffe gewesen, die man da unsachgemäß gelagert habe, bis sie explodiert seien. Am Ende war es "nur" fahrlässig gelagertes Ammoniumnitrat. Und doch sei auch dies so bezeichnend für "ein unachtsames, korruptes, dysfunktionales System", sagt der Nahostexperte.
Ausplünderung des Staates
Die Ursache sieht Gräbe schon in der Zeit nach dem Bürgerkrieg (1975-1990), als der Libanon "im Zeichen eines wirtschaftlichen Ultra-Liberalismus wieder aufgebaut" wurde. "Der Staat wurde nicht als Gemeingut aller Bürgerinnen und Bürger geführt, sondern wie ein Wirtschaftsbetrieb, der in dem Maße funktioniert, wie es den Angehörigen des Managements gelingt, ihr Kapital zu vermehren", so Gräbe. Das habe letztlich zur Ausplünderung des Staates geführt.
"Vermutlich werden viele Menschen jetzt erst einmal die Ärmel hochkrempeln und in nachbarschaftlicher Solidarität die Trümmer beseitigen - wissend, dass sie von ihrem Staat keine Hilfe zu erwarten haben", fährt er fort. "Sie werden der so bemerkenswerten libanesischen Gastfreundschaft entsprechend die wenigen verbliebenen Ressourcen miteinander teilen und schauen, wie sie überleben können." Und: "Womöglich steht der Libanon an der Schwelle zu einem neuen gesellschaftlichen System", hofft Gräbe.