Für eine Nacht erlaubt Felice Meer sich etwas Luxus. Sie hat in Perl bei Trier in einem Hotel eingecheckt, kurz vor der französischen Grenze. Mehr als 1000 Kilometer liegen hinter ihr, noch einmal rund 1800 will sie gehen - zu Fuß bis ins spanische Santiago de Compostela. "Anzukommen wird auch ein Geschenk sein", sagt die 55-Jährige. Als sie am 12. Juni an der Pilgerroute "Via Scandinavica" vor dem Kloster Medingen in Niedersachsen aufgebrochen ist, war die Grenze zu Spanien wegen der Corona-Pandemie noch geschlossen. Erst seit dem 1. Juli kehren internationale Pilger auf den Jakobsweg zurück - weit weniger allerdings als in anderen Jahren.
Im vergangenen Jahr registrierte das Ankunftsbüro in Santiago de Compostela gut 347.000 Menschen, die das Pilgerziel erreichten. Allein im Juli 2019 waren es jeden Tag im Schnitt mehr als 1700. In diesem Juli führt das Büro auf seiner Internetseite täglich rund 200 auf. "Es sind nicht alle Pilgerherbergen geöffnet, aktuell gibt es wieder coronabedingte Einschränkungen in bestimmten Gebieten", berichtet auch Martina Hanz von der Deutschsprachigen Pilgerseelsorge der katholischen Kirche.
Bibelworte aufs Smartphone
Felice Meer ist eine erfahrene Fernwanderin. Doch den Entschluss zu pilgern fasste sie kurzfristig, drei Wochen vor dem Start. Von ihrem Zuhause nahe Bad Bevensen in der Lüneburger Heide aus den Jakobsweg zu gehen, sei für sie ein Traum gewesen, sagt sie. Als selbstständige Grafikerin mehrere Monate Auszeit zu nehmen, das ging allerdings nicht. "Dann kam Corona und es war sowieso alles auf Null gestellt." Zu ihren Kunden gehören Chöre und Freiberufler wie sie selbst. Alle Aufträge brachen weg, finanziell ein Desaster. "Doch in anderer Hinsicht eine Chance."
Gestärkt durch eine Segensfeier vor dem Kloster und mit möglichst leichtem Gepäck hat sie sich auf den Weg gemacht. "Es war deutlich, dass es viel Ungewisses geben wird", blickt Pastorin Stefanie Arnheim auf den Abschied zurück. Sie schickt der Pilgerin regelmäßig Bibelworte und andere Impulse aufs Mobiltelefon. "Ich gucke an jeder Kreuzung darauf, wahrscheinlich 150 Mal am Tag. Das macht auch etwas mit einem", sagt Felice Meer.
Eine leichte Luftmatratze, einen Schlafsack, die blaue Hose und zum Wechseln während der Wäsche Leggins - Felice Meer hat möglichst wenig eingepackt. Doch Papierbögen, Bleistifte, Fineliner und Aquarellfarben hat sie immer dabei. Sie pilgert rund 30 Kilometer und sie zeichnet, das ist der Tagesablauf.
Schlafen im Freien
Von ihren Erlebnissen am Weg erzählt sie in Comics, die sie täglich außer sonntags mit dem Handy scannt und in einem Blog in den sozialen Medien teilt. Auf der Kreativen-Plattform "steady" können Comic-Freunde sie zudem unterstützen und mit monatlicher Mitgliedschaft einen Kaffee, eine warme Mahlzeit oder ein gelegentliches Dach über dem Kopf ermöglichen.
Rund drei von vier Nächten aber schläft die 55-Jährige im Freien, eingemummelt in ihrem Schlafsack. Bäume mit tief hängenden Ästen eignen sich gut als Schutz, hat sie herausgefunden. Nur einmal, noch am Anfang der Reise, war das nicht so. "Ich habe unter einer Eiche gelegen und gemerkt, es geht mir immer schlechter, dann bin ich mitten in der Nacht aufgesprungen, weil das nicht auszuhalten war." Erst später wurde ihr klar, dass Raupen des Eichenprozessionsspinners sie geplagt hatten. "Das war heftig, aber es hätte viel schlimmere Folgen haben können." Bei Widrigkeiten nicht in Panik zu verfallen, das wolle sie ins spätere Leben mitnehmen.
Vor der eigenen Haustür beginnen
Auch in den jeweils sechs bis acht Bildern ihrer Comic-Geschichten wenden sich Dinge zumeist ins Positive. "Wie ich es aufzeichne, beeinflusst meine Weltsicht." Neben ihr selbst mit dem markanten Rotschopf spielt ein kleiner Drache eine Hauptrolle: "Menno" - Sidekick und Alter Ego, der auch mal Faxen macht oder sich beschwert. "Selbstreflexion", sagt Meer. Durch die Comics ist sie aber auch mit ihren Followern etwa bei Instagram verbunden. "Ich laufe alleine, aber ich bin nicht alleine."
Auf den Pilgerwegen, die sie mal entlang von Straßen, mal durchs Unterholz per GPS ortet, ist sie bisher wenig anderen Menschen begegnet. Zahlen darüber, wie viele Pilger in Deutschland den Jakobsweg vor der eigenen Haustür beginnen, gebe es nicht, sagt Martin Gottschewski von der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft. "Aber es ist eine Sache, die zunimmt", ergänzt der Bremer, der selbst schon die gesamte Wegstrecke gepilgert ist. Im Jahr mit Corona lägen aber Wege im Inland eher im Trend.
Der Jakobsweg ist ein europaweites Netz von Straßen und Wegen. Seit dem neunten Jahrhundert führt er Pilger vom Baltikum über Polen, Deutschland, die Schweiz und Frankreich zum angeblichen Grab des Apostels Jakobus in Santiago. Felice Meer hofft, dort bis Ende September anzukommen. "Dazu gehört viel Gottesgnade", sagt sie. In der DDR atheistisch erzogen, hat sie sich erst 2004 taufen lassen. Sie sei durch die Musik zur Kirche gekommen, sagt sie: "Ich bin frei im Denken und Glauben."
Beruflich hat Meer, die Kunst studiert hat, schon einmal umgesattelt - von der Bildhauerei zur Grafikerin. Mit dem Pilgern könnten sich wieder neue Wege öffnen, hofft sie. Regelmäßig schickt sie die Zeichenblätter mit den Comics zu ihrer Frau nach Hause: "Ich habe noch Pläne damit."