"Wir halten uns jetzt besser die Ohren zu." Marion Wredes Handywecker hat Alarm gegeben. Auf dem Display läuft der Countdown. "In etwa zehn Sekunden schlagen die Glocken", sagt die Kirchenpädagogin der evangelischen Marktkirche in Hannover. Nur wenige Augenblicke später ertönen drei Glocken in ohrenbetäubender Lautstärke, zweimal angeschlagen von einem automatischen Hammer. Schließlich soll da unten in der Altstadt jedermann und jede Frau mitbekommen, dass es nun halb zwölf ist. Seit Anfang Juli können Besucher das Anschlagen der Glocke in rund 80 Metern Höhe allerdings auch wieder live in der Glockenstube miterleben. Denn nach zwei Jahren Pause sind wieder Turmführungen möglich.
Ein paar Dutzend Meter tiefer im Turm der spätmittelalterlichen Backsteinkirche, einem Wahrzeichen Hannovers, hängen weitere Glocken. Es sind elf Läuteglocken, die mehrheitlich von einem ganz anderen Kaliber sind als die kleineren Schlagglocken für die Uhrzeit Die größte von ihnen, die bronzene Friedensglocke, hat einen Durchmesser von zweieinhalb Metern und wiegt allein zehn Tonnen. Sie ist die größte Glocke Niedersachsens und lässt nur an Festtagen und zu besonderen Anlässen ihr tiefes "e" erklingen.
Wenn das Geläut in Schwung kommt, sollte niemand daneben stehen. Für Turmführungen war das immer problematisch, denn auf dem Weg nach oben müssen Besucher durch den Glockenstuhl. Das Problem war so gravierend, dass die Führungen im Sommer 2018 eingestellt wurden. Heute ist es keines mehr. Denn die Läuteglocken können nun ausgeschaltet werden. Marion Wrede dreht den Hebel an dem roten Steuerungskasten auf "Aus" und sichert ihn mit einem Schloss.
Diese und weitere Sicherheitsmaßnahmen ermöglichen seit wenigen Wochen wieder Turmführungen in der größten und ältesten Kirche Hannovers, die um 1360 geweiht wurde. Im hohen balkenstarrenden Dachstuhl des Kirchenschiffs, in den Besucher bei Turmbesichtigungen ebenfalls gehen, wurden hüfthohe Holzgeländer eingebaut. "Früher mussten Besucher hier auf den Trittwegen zwischen den Gewölbekuppeln balancieren", erinnert sich die Kirchenführerin. Auch die Orientierung für den Notfall wurde verbessert: An mehreren Punkten hängen nun Flucht- und Rettungspläne. Zudem wurden die Notausgänge ertüchtigt, die über steile steinerne Wendeltreppen führen. Dort haben Arbeiter Geländer und hölzerne Zugangstreppen eingebaut. Moderne Blitzableiter sorgen für einen höheren Schutz bei Blitzeinschlägen.
Eigentlich sollten die Turmführungen nach einer Großreinigung des Turms schon zu Ostern beginnen - doch dann kam Corona. "Das hat alles über den Haufen geworfen", erzählt Wrede. Sie und ihr Team aus sieben ehrenamtlichen Kirchenführern mussten warten, bis die Vorschriften gelockert wurden. Doch obwohl der 97 Meter hohe Turm inzwischen seine Pforte geöffnet hat, gelten einige Regeln weiter: Wer hinauf will, muss Abstand halten und eine Maske tragen. Höchstens sechs Personen dürfen an einer Führung teilnehmen.
Spektakuläre Einblicke und Ausblicke
Die Turmerkundung über fast 400 Stufen bis nach oben ist auch ohne Maske schon anstrengend. Steile Stahltreppen winden sich eng angeschmiegt an die Wände hinauf zur Glockenstube, und wer hinaufsteigt, blickt Dutzende von Metern hinab ins Leere. Besucher müssen deshalb schwindelfrei sein. Und sie sollten mit engeren Passagen kein Problem haben. Unter der Friedensglocke etwa müssen die Besucher den Kopf einziehen. Doch wer es hinauf schafft, wird spektakulären Einblicken und Ausblicken über Stadt und Region belohnt - bis hin zum Deister.
Bei Führungen erfahren Besucher etwa, wie Anwohner 1943 mit ein paar Flaschen Bier die Kirche vor dem Niederbrennen retteten, oder sie entdecken die grünlichen Bronzetränen an der Turminnenwand, wo nach einem Bombentreffer im Krieg die letzte vorhandene Glocke schmolz. Über knarzende Holztreppen ganz oben angekommen, entdeckt Marion Wrede einen Turmfalken am Fenster. "Das ist das erste Mal", jubelt sie und nimmt dessen Fiepen mit einer Vogelstimmen-App auf. Nach zwei Jahren Pause gibt es hier auch für sie viel Neues zu entdecken.