Sie haben sich fünf Jahre darum bemüht, dass ihre Geschichte in der hannoverschen Landeskirche bekannt wird. Jetzt geht die Kirchengemeinde mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. Wofür ist das gut?
Katarina Sörensen: Das ist eine Entmächtigung des Täters. Das ist das ultimative Brechen des Schweigegebots, das der Täter mir auferlegt hat. Alle dort wissen, um wen es geht.
Die Gemeinde dort war für mich ganz lange verbrannte Erde. Ich war dort lange nicht und es ist schwer für mich gewesen, dorthin zufahren; erst, seit ich den Missbrauch mit meinen Schulfreundinnen besprochen habe und sie das auch so sehen wie ich, seitdem fällt es mir leichter. Während der Missbrauch stattfand, hat es Gerüchte gegeben. Dann ist der Pastor auch versetzt worden. Ich glaube, so wie ich das wahrgenommen habe, wurde der Missbrauch eher mir negativ ausgelegt, als dass der Pastor verantwortlich gemacht wurde. Ich war die verrückte Jugendliche, die Sachen gemacht hat, die sie nicht machen soll.
Da jetzt hinzugehen und zu sagen: Das war Missbrauch, der Pastor war der Täter, das erfordert Mut. Diesen Mut habe ich, weil meine Freundinnen, die es damals mitbekommen haben, auch für mich sprechen, mir den Rücken damit stärken.
Welche Schritte gehen der Kirchenkreis und die Landeskirche jetzt?
Sörensen: Ich vertraue darauf, dass die Hannoversche Landeskirche mit dem Wissen um den Missbrauch weiter mit dieser Geschichte umgeht. Dass sie einen Umgang damit in der Gemeinde findet. Mir ist es wichtig, dass das Wissen da ist.
Der Kirchenvorstand weiß schon seit Januar 2020 Bescheid. Das sind alles Menschen, die damals nicht dabei waren. Alle ehemaligen Kirchenvorsteher sind angeschrieben worden, dass das Sprechen über den Missbrauch ansteht.
Was soll dann passieren, wenn die Gemeinde über den Missbrauch spricht?
Sörensen: Die Landeskirche hat mir schon vor einigen Jahren Geld gezahlt und damit gesagt, das Verbrechen gegen Schutzbefohlene hat stattgefunden. In der Gemeinde war es auch schon vor 25 Jahren bekannt, dass der Pastor eine komische Beziehung zu mir gehabt hat. Und jetzt ist es wichtig, diese Beziehung zu benennen. Das Wissen allein ist ein Ziel. Das Wissen um und das Benennen als Missbrauch, das ist eine starke Handlung. Das ist eine Aktion an sich. Position beziehen: 25 Jahre später, ja. Aber dass jetzt Position bezogen wird, das ist mir wichtig.
Dass über geschehenen Missbrauch gesprochen wird, passiert zum Glück jetzt immer öfter: Durch die Missbrauchsdebatte 2010, durch die MeToo-Debatte, durch die Aufklärung und Polizeiarbeit in NRW. Da ändert sich was. Man muss an vielen Stellen Strukturen schaffen, die sich mit Missbrauch auseinandersetzen. Nicht nur übergeordnet, wie in der Landeskirche in Hannover, sondern auch direkt in Kirchengemeinden. Wir müssen das Bewusstsein dafür schaffen, dass Missbrauch mitten in unserer Gemeinschaft stattfindet. Missbrauch hat viele Formen. Es ist natürlich nicht jeder Pastor, die allermeisten würden so etwas nie tun – aber es kann der Pastor sein, es kann der Lehrer sein, der Trainer beim Sport. Wenn wir darüber reden, nehmen wir den Tätern die Macht.
Was haben die Menschen in der Kirchengemeinde damals falsch gemacht?
Sörensen: Schwierig zu sagen. Im Rückblick ist das immer leichter zu erkennen. In der damaligen Zeit war es schwieriger, Missbrauch zu erkennen und zu benennen. Ich glaube, dass wir heute weiter sind. Was haben sie falsch gemacht? Sie haben nicht mit mir und anderen Jugendlichen geredet. Man muss mit Kindern und Jugendlichen reden und ihnen zuhören. Ein Großteil der Jugendlichen wusste, was passiert. Das heißt, man muss Strukturen schaffen, in denen Kindern und Jugendlichen zugehört wird und sie wissen, wo sie sich melden können. Zudem muss man mit den Kindern und Jugendlichen über das Thema sexualisierte Gewalt, über Missbrauch, reden, damit sie das bennenen können. Wenn man mit mir darüber geredet hätte, wer weiß, was dann passiert wäre. Ich war bedürftig, habe jemanden gebraucht, der mich sieht, habe Liebe gebraucht. Vielleicht wäre ich dann nicht auf ihn reingefallen oder hätte mich schneller von ihm lösen können.
Was kann die Kirchengemeinde heute tun, dass sie es richtig macht?
Sörensen: Sie hat gut angefangen. Sie haben zugehört und sie gehen an die Öffentlichkeit. Das ist ein guter erster Schritt. Was der Kirchenvorstand tun kann: Wenn es Leute gibt, die sagen, dass sei kein Missbrauch gewesen, dann müssen sie das verteidigen. Und sie müssen ansprechbar sein für andere, in denen meine Geschichte Erinnerungen auslöst. Das können Fälle im kirchlichen Bereich sein, aber auch ganz andere Fälle von Missbrauch, an die sich Menschen dann wieder erinnern.
Ich weiß, dass es in meiner Zeit Kinder gegeben hat, die in der Familie oder vom Musiklehrer missbraucht worden sind. Das muss man sehen und sagen, dass es falsch war. Und es passiert ja immer noch. Nicht in der gleichen Form, wie in den 1980er und 1990er Jahren, aber es passiert immer noch.
"Ich sehe es als gutes Zeichen, dass die hannoversche Landeskirche den Mut hat, diesen Prozess voranzutreiben. Denn es gibt bestimmt ein paar Kirchenaustritte danach"
Gibt es einen gesellschaftlichen Bereich oder eine Institution in Deutschland, die wirklich Kinder im Blick hat und ein gutes Vorgehen gegen sexualisierte Gewalt hat?
Sörensen: Das ist zu erarbeiten. Auf der Ebene des Schul- und Beamtenrechtes haben wir Nachholbedarf. Es gibt keine Abstinenzklausel nach beendigten Schutzbefohlenen-Verhältnissen. Ein Lehrer, der am Tag der Verleihung des Abiturzeugnisses Sex mit einer Schülerin hat, begeht damit keine Straftat. Auch, wenn die Beziehung während der Schulzeit angebahnt wurde.
In therapeutischen Verhältnissen gibt es eine Abstinenzklausel. Therapeuten dürfen mit ihren Patienten kein sexuelles Verhältnis haben, auch erstmal nicht, wenn das Arzt-Patienten-Verhältnis beendet wurde – da gibt es eine zweijährige Abstinenzfrist; diese braucht es für alle pädagogischen Berufe.
Haben Sie jetzt Hoffnung, dass die Kirche das Thema mit vorantreiben kann?
Sörensen: Ich sehe es als gutes Zeichen, dass die hannoversche Landeskirche den Mut hat, diesen Prozess voranzutreiben. Es gibt bestimmt ein paar Kirchenaustritte danach; die Landeskirche und die Gemeinde haben sich trotzdem dazu bereit erklärt. Ich sehe das als gutes Zeichen in der Gemeinde und es ist aber dort relativ einfach, weil der Pastor verstorben ist. Und relativ einfach heißt: Es ist trotzdem noch schwierig und schmerzhaft für die Menschen vor Ort. Die Kirche muss ihr Disziplinarrecht überarbeiten und sich stärker positionieren, wenn Missbrauch geschieht.
Weil es nach wie vor vorkommt, dass Pfarrer versetzt werden und sich weiterhin Pfarrer nennen dürfen?
Sörensen: Ja. Der Prozess ist schwierig. In meinem Fall habe ich das Glück, auf sehr lernwillige und kooperationswillige Menschen gestoßen zu sein. Das Problem ist aber, dass die Aufarbeitung strukturell verankert werden muss. Denn in zehn Jahren sind die Menschen, die jetzt Verantwortung in der Kirche tragen und die mich unterstützt haben, im Ruhestand. Die Ansprechbarkeit muss noch viel mehr verstetigt werden.
Sie haben sich für den Betroffenenrat der EKD beworben.
Sörensen: Ja. Am Montag, 6. Juli 2020, direkt nach der Pressekonferenz in Hittfeld, habe ich per Zoom ein Auswahlgespräch mit den Verantwortlichen bei der EKD.
Dass Sie die Aufarbeitung mit ihrer Landeskirche gemeinsam ausprobieren, ist natürlich eine gute Möglichkeit der Erprobung für den richtigen Weg.
Sörensen: Ich habe mich gut vernetzt und arbeite seit fünf Jahren an diesem Prozess mit der Landeskirche. Ich persönlich glaube, dass ohne das Hearing beim UBSKM im Jahr 2018 nicht so viel in der Kirche passiert wäre. Bischof Meister hatte sich damals bei mir nicht gemeldet, als ich ihm meine E-Mails geschickt habe. Ich hoffe, dass er sich das in Zukunft nicht mehr traut, Betroffene abzuweisen. Ich hatte eine E-mail zurückbekommen, dass Herr Bischof Meister über 2.000 Termine im Jahr habe. Und es wäre deshalb unehrlich mir zuzusagen, dass er sich meiner Sache annimmt. Ich wollte gar nicht, dass er sich meiner Sache annimmt. Ich wollte, dass er sich der Aufarbeitung in seinem Haus annimmt.
Was gehört für Sie zu einer gelungenen Aufarbeitung dazu?
Sörensen: Die Dokumentation des Geschehenen ist der erste wichtige Schritt. Und das darf auch erstmal eine Weile so stehen bleiben. Da muss man gar nicht sofort aktiv werden. Wenn das Geschehene dokumentiert ist, kann man in Ruhe gucken, welche Reflexe es gibt, was die Geschichte und die Informationen mit mir machen: Will ich das abwehren? Will ich unbedingt handeln? Fühle ich mich in Frage gestellt oder gar schuldig? Diese Gefühle erstmal zuzulassen und nicht übereilt in Aktivismus zu verfallen, das ist ein wichtiger Schritt. Denn dann lässt sich das Geschehene in Haltung und Handlung umsetzen. Ich kann nicht konkret sagen, was andere machen sollen. Aber: Sie sollen es auf sich wirken lassen, damit es bei ihnen ankommt. Denn nur dann kann sich ihre Haltung massiv ändern. Und sie wird sich ändern, das glaube ich ganz sicher.