Gut drei Monate ohne Konzerte und öffentliche Auftritte. Der Corona-Lockdown traf die Musikszene mit voller Wucht. Den vielen freischaffenden Musiker*innen brachen über Nacht sämtliche Einnahmen weg, und auch viele Veranstalter sind in ihrer Existenz bedroht. Mit dem Sommeranfang kommt normalerweise ja auch die Festival-Saison – für das Publikum ebenso ein Highlight im Kalender wie für die Musiker*innen ein Schwerpunkt ihrer Arbeit und damit auch ihrer Einnahmen. Ob Bayreuther Festspiele oder Rock am Ring, Rheingau Musikfestival oder Wacken – alles wurde frühzeitig abgesagt. Großveranstaltungen sollen nach den jüngsten Beschlüssen von Bund und Ländern noch bis Oktober verboten bleiben.
Wie kann es aber trotz oder mit den Beschränkungen weitergehen? Zwei der wichtigsten Festivals der geistlichen Musik, die dieser Tage sonst über die Bühne gehen würden, haben einen Schritt nach vorne gemacht und loten die Möglichkeiten aus, ihrem Publikum zu begegnen und die engagierten Künstler*innen nicht brotlos zu lassen.
Bereits Anfang April wurde das Leipziger Bachfest abgesagt. Die traditionsreiche Woche sollte dieses Jahr im Zeichen einer großen Begegnung stehen: Unter dem Motto "We are family" wollten Chöre und Ensembles aus aller Welt anreisen, um Bachs Kantaten und andere Werke aus dem Umfeld des Thomaskantors an dessen Wirkungsstätten aufzuführen.
Das Programm soll 2022 nachgeholt werden. Trotzdem schmerzt diese Absage besonders. Die Veranstalter von Bach-Archiv und Neuer Bachgesellschaft haben sich deshalb eine Alternative überlegt und kurzfristig auf die Beine gestellt: An zwei Juni-Wochenenden gibt es den "Bach-Marathon" – 1.500 Minuten Bachsche Musik, jeweils sechs Stunden an vier Tagen, gesungen und gespielt in der Thomas- und der Nikolaikirche. Hinzu kommen Video-Grüße von Bach-Enthusiasten rund um den Globus. Komplett gestreamt wird das Programm auf Youtube, bei den Gottesdiensten ist eine begrenzte Besucherzahl auch live dabei.
Honorare aus dem Spendentopf
Das Programm steht unter dem Leitwort "zur Recreation des Gemüths" – ein Originalzitat Bachs, eine Wirkung von Musik betreffend, die auch der gegenwärtigen Situation sehr angemessen erscheint. "Wir versuchen, uns damit ein bisschen zu therapieren", sagt Michael Maul, Intendant des Bachfestes, im Interview des MDR. Doch beim Ideellen soll es nicht bleiben: Bei der Internet-Aufführung einer "Johannespassion à trois" zu Karfreitag spendeten Musikliebhaber*innen rund 20.000 Euro. Durch weitere Sponsoren und das Land Sachsen wurde der Betrag auf 70.000 Euro aufgestockt. Aus diesem Topf werden die am Bach-Marathon beteiligten Musiker*innen bezahlt. Neben internationalen Stars wie Ton Koopman sind das vor allem rund 150 Künstler*innen aus der Region. Ob Solist oder zweite Geige – "jeder bekommt das Gleiche", betont Maul.
Den Höhe- und Schlusspunkt des vielfältigen Programms bildet eine Aufführung der h-moll-Messe in einer äußerst reduzierten Besetzung – eine Fassung, die eigens für den "Bach-Marathon" hergestellt wurde.
Neue Formate - über den Tag hinaus
Neue Veranstaltungsformate zu entwickeln und auszutesten ist ein Markenzeichen der Internationalen Orgelwoche Nürnberg. Seit letztem Jahr firmiert sie als "Musikfest ION - das internationale Festival für Geistliche Musik in Nürnberg" unter dem neuen künstlerischen Leiter Moritz Puschke. Auch er und sein Team sind in die Offensive gegangen und versuchen, die Krise als Gelegenheit zu sehen und zu nutzen: "Eine neue Erzählung soll über Krise, Absage, Distanz und Not hinausdenken und die belastende Gegenwart kreativ in intensive, hochklassige und immer auch wagemutige Musik überführen", heißt es in einer Pressemitteilung. Das urspüngliche, an Hölderlin anklingende Motto "Ins Offene. Über Mut" scheint perfekt auch auf die neue Situation zu passen.
Die Mitwirkung so unterschiedlicher Musiker*innen wie dem Alte-Musik-Ensemble "Cappella de la Torre", der Oberton-Sängerin Anna-Maria Hefele oder der Jazz-Formation "Masaa" versprechen eine Bandbreite, wie man sie in Nürnberg auch gewohnt ist. Es wird aber auch Gespräche geben, die die aktuelle Situation reflektieren und mögliche Wege in die Zukunft der Musica Sacra. Zwischen 27. Juni und 5. Juli sind neun Abendveranstaltungen in verschiedenen Kirchen und an anderen Orten geplant. Sie werden auf der Internetseite des Festivals übertragen und sind auch später noch ansehbar. Live-Publikum ist nach derzeitigem Stand nur bei einem Auftritt der Gesangsgruppe "SLIXS" im Germanischen Nationalmuseum (5.7.) vorgesehen. Dem Motto "Nah bei dir" wollen die Veranstalter trotz weiter bestehendem social distancing durch Intensität und besondere Einblicke, wie sie ein traditioneller Konzertbesuch nicht hergibt, gerecht werden.
Wie es weitergeht, ist ungewiss
Kreativität als Mittel gegen die Krise. "Dass wir weitermachen, ist ja eine deutliche Ansage", findet Moritz Puschke. Dass die Veranstalter über die aktuelle Saison hinaus in eine unsichere Zukunft blicken, ist aber auch klar. 25.000 Vorverkaufs-Karten hatte das Leipziger Bachfest dieses Jahr bereits verkauft. Die Rückabwicklung sei für alle Beteiligten "existenzbedrohend", sagt Intendant Maul. Es gibt die Möglichkeit, die bereits bezahlten Karten zu spenden. Auch in Nürnberg ist das so. Dort geht es um ein Jahresbudget von rund 500.000 Euro. Die Kartenerlöse machen etwa ein Fünftel aus, der Rest sind Zuschüsse von Stadt, Land, den Kirchen, Sponsoren und Spendern. Man habe diese Geldgeber überzeugen können, ihre zugesagten Mittel stehen zu lassen, sagt Puschke. Wie die Förderung aber in den nächsten Jahren aussehe, sei derzeit völlig offen.
Für die Zukunft engagiert sich Puschke auch im Forum Musik Festivals. Dort versuchen Musikveranstalter in Deutschland, mit der Politik in Kontakt zu treten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Die Hauptforderungen sind eine wirksame finanzielle Unterstützung für freie Musiker*innen, angelehnt an ein Kurzarbeitergeld, feste Zusagen für öffentliche Förderungen in den nächsten drei Jahren sowie bundesweit einheitliche Regelungen bei Konzertveranstaltungen.