Herr Puschke, was verbindet Sie als Berliner persönlich mit Nürnberg, mit dem evangelischen Bayern, mit Franken?
Moritz Puschke: Ich weiß schon länger, was es für herausragende, tolle Kirchenräume in Nürnberg gibt. Ich habe viel Zeit gehabt, mich in Nürnberg kundig zu machen - und die habe ich auch genutzt: um mit Kirchenmusikern, Pfarrerinnen und Pfarrern, mit dem Regionalbischof Nitsche zu sprechen. Ich habe versucht rauszukriegen: Wie tickt Kirchenmusik in Nürnberg? Welche Traditionen gibt es? Was läuft gut? Was nicht so gut? Das ist wichtig, wenn man so ein Festival macht.
Ich war überrascht, was für eine tolle, kreative, bunte und vielfältige Stadt Nürnberg ist. Man hat natürlich einerseits immer dieses Reichsparteitag-Feld und die schreckliche Geschichte im Fokus, aber dann habe ich die "Straße der Menschenrechte" gesehen und entdeckt, dass sich Nürnberg heute als Stadt der Menschenrechte empfindet. Auch die evangelische Kirche nehme ich als sehr progressiv, sehr geöffnet, als sehr neugierig wahr. Alles in allem: ein toller Humus, um so ein Musikfest programmatisch gestalten zu dürfen.
Das Motto der diesjährigen ION lautet "Spuren". Was wollen Sie damit transportieren?
Puschke: Das Festival-Motto "Spuren" habe ich ganz bewusst gewählt, weil ich die erwähnte Spurensuche in Nürnberg unternommen habe. Ich habe einerseits geschaut: Was ist die reichhaltige Kultur- und Musikgeschichte Nürnbergs mit Dürer, Pachelbel und so weiter? Und: Wo kommt diese Internationale Orgelwoche eigentlich her? Aus dem Geist der Völkerverständigung nach dem Zweiten Weltkrieg, aus den Ruinen der Kirchen! Als die erste Orgel wieder spielfähig war, hat man sich gleich international aufgestellt und Organisten eingeladen aus anderen europäischen Ländern. Das war unglaublich visionär und fortschrittlich.
All das spiegelt sich im Programm: "Auf Dürers Spuren" ist der Abend mit Bernhard Buttmann, Organist und Kantor an St. Sebald, der eine große Uraufführung eines Werks von Philipp Maintz spielt. Die Kirchenmusiker der Innenstadtkirchen sind alle einbezogen in den großen Eröffnungsabend, die lange ION-Nacht, mit der das Festival am Freitagabend sozusagen den richtigen Auftakt bekommt. Man merkt das in den Vorgesprächen. Ich habe den Eindruck: Was hier qualitativ und programmatisch an großer Kirchenmusik geboten wird, hat man in dieser Dichte und in dieser Qualität beileibe nicht in jeder großen deutschen Stadt.
"Es passiert mit Menschen etwas ganz anderes, wenn sie im Kirchenraum ein Konzert erleben"
Eine Neuerung 2019 lässt sich an der Internetadresse der ION ablesen: Früher ion-musica-sacra.de, ist es nun musikfest-ion.de. Was verbirgt sich dahinter? Soll die geistliche Tradition künftig eine kleinere Rolle spielen?
Puschke: Nein, ganz im Gegenteil. Man muss in dieser digitalisierten Welt der Hashtags natürlich sehen: Was sind die Schlagworte? Aber uns ist ganz wichtig, dass zu diesem Musikfest ION ein ebenso kräftiger Untertitel gehört, der auch überall, in jedem Druckerzeugnis, auf jedem Plakat kommuniziert wird. Und der heißt: "Das internationale Festival für geistliche Musik in Nürnberg". Genau darum geht es mir. Ich will ausleuchten: Was bedeutet heute geistliche Musik? Ist das komponierte Musik? Ist das vielleicht aber auch eine persönliche Erfahrung, die jeder ganz individuell macht, wenn er ein Konzert im Kirchenraum hört? Wie werde ich anders angeregt, anders berührt, anders getröstet, anders zum Nachdenken gebracht?
Was heißt das konkret?
Puschke: Es passiert mit Menschen etwas ganz anderes, wenn sie im Kirchenraum ein Konzert erleben, als wenn sie es in einer hell erleuchteten Philharmonie oder im Konzerthaus hören. Ich glaube, das können wir noch viel mehr herausstellen.
Nur können immer weniger Menschen mit Begriffen wie "geistliche Musik" etwas anfangen??
Puschke: Ich finde es eigentlich ganz schön, das Wort "geistlich": Da stecken Geist und Begeisterung drin, und diesen Geist will ich heben und entdecken. Wenn man sich die Festival-Landschaft in Deutschland so ansieht: Es gibt zig Festivals für klassische Musik; aber ein Festival, das sich auf geistliche Musik konzentriert und das Thema immer wieder neu beleuchtet, das gibt es relativ selten. Da sehe ich für uns auch eine überregionale Chance.
Bei einem Symposium geht es um die Frage: "Alles Pop?! Oder: Was bleibt von der Musica Sacra?" Was ist Ihre persönliche Antwort? "Rockt" Bach auch heute noch?
Puschke: Ich finde: Bach rockt eindeutig! Ich liebe wirklich auch Popmusik. Ich bin ein großer Beatles- und Pink-Floyd-Fan. Ich habe noch eine Band in Bremen, und ich kenne mich echt gut aus. Sie sprechen mit jemandem, in dessen Brust zwei Herzen schlagen. Aber ich mag diese ganzen deutschen Teilungen nicht. Nicht nur die politischen, auch nicht die musikalischen Schubladen für "U" und "E" oder Pop und Klassik. Bach oder auch Mozart waren in ihrer Zeit revolutionär.
Man würde heute sagen, dass sie über den Groove, über den Beat komponiert haben. Bach komponiert über den Generalbass, und was ist der Generalbass anderes als im Pop Bass und Schlagzeug? Oder wenn man sich Blitz und Donner in der Matthäuspassion anhört oder "Lasset uns den nicht zerteilen" in der Johannespassion: Das groovt, das ist tänzerisch ohne Ende. Auch die Bach-Motetten! Oder Monteverdi! Das war zu der Zeit die Popmusik, aber von höchster Qualität. Die spannende Frage für mich ist: Wie wird geistliche Musik heute wieder alltagsrelevant? Mir ist in meinen Konzerten wichtig, dass die Qualitätsbotschaft eindeutig ist.
Wie schlägt sich das im Programm nieder?
Puschke: Bei der Johannes-Passion zum Beispiel, die wir dieses Jahr mit ganz jungen Musikern machen, komprimieren wir auf eine Dreier-Besetzung. Das Werk ist ja sonst für Chor, Orchester und Solisten groß besetzt. Wir reduzieren das auf einen Sänger, einen Percussionisten, eine Tasten-Virtuosin und das Publikum, das die Choräle singen wird. Das ist höchst zeitgemäß, weil das drei junge Leute sind, die frisch von den Hochschulen kommen.
Ist moderne "Lobpreismusik" eigentlich ebenfalls "geistliche Musik"? Inzwischen gibt es ja auch Ausbildungen zum Popmusik-Kantor.
Puschke: Das wollen wir auf dem Symposium ein Stück weit auch diskutieren: Was sind die Qualitätsbotschaften der Kirchenmusik heutzutage, aber wo sind vielleicht auch Kannibalisierungstendenzen? Wir wissen, dass es in einzelnen Kirchengemeinden durchaus Diskussionen und auch Auseinandersetzungen gibt über die Frage: Was ist eigentlich die passende zeitgemäße Musik im Gottesdienst? Ich glaube, wir dürfen nicht diese beiden Szenen gegeneinander ausspielen, sondern wir müssen herausfinden, was wir davon haben, wenn es in unserer Gesellschaft ein Stück weit diverser wird.
Im Vorwort zum Programm der diesjährigen ION schreiben Sie: "Allein schon die Kirchen als Herz der ION sind schlichtweg atemberaubend." Was macht Nürnberg "gerade im Sommer zu einer aufregenden Musikfestival-Stadt"?
Puschke: Ich hoffe, dass es nicht am Klimawandel liegt, aber in den letzten beiden Jahren war es diese Mischung aus unfassbar gutem Wetter, gepaart mit den vielen Menschen, die ohnehin in der Stadt sind und internationales Flair verbreiten. Das bunte, trubelige Gefühl, das passt zu so einem Festival. Du kannst innerhalb von zehn Minuten sechs, sieben, acht Konzertkirchen ablaufen und triffst dabei überall immer wieder Leute. Das ist für mich so ein typischer Festival-Charakter. Den werden wir in den nächsten Jahren noch versuchen weiter auszubauen. Mal schauen, wo es noch ein paar spannende Höfe gibt, wo man ein bisschen was machen kann.