Von sich selbst sagt Samuel Schelle, dass er "eigentlich ein absoluter Durchschnittsmensch" ist. Nur, dass seine Identität eine etwas größere Rolle spiele als bei anderen Menschen. Vor 37 Jahren wurde Samuel als Susanne in eine traditionelle katholische Familie hineingeboren, doch als Frau fühlte er sich im Katholizismus nicht willkommen. Er konvertierte, wurde evangelische Pfarrerin, sein Traumberuf - und war trotzdem todunglücklich. Irgendwas mit dem Liebesleben funktionierte bei ihm nicht. Bis er begann, sich mit Transsexualität zu beschäftigen, "mit dem Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein", wie er sagt. "Plötzlich machte alles Sinn", erzählt der Pfarrer aus Überlingen am Bodensee. Er trat den Weg zu einem neuen Leben als Mann an.
Schelle sagt, seitdem er denken könne, habe er gewusst, dass er anders sei: "Ich fand es immer komisch, dass die anderen mich für ein Mädchen hielten." Allerdings hatte er keinen Namen für sein "Anders-Sein". Seine Eltern ließen ihm alle Freiheiten. "Ich hatte dahingehend eine glückliche Kindheit, war kein Außenseiter." Er sei eben nur kein "klassisches Mädchen" mit Kleidern und langen Haaren gewesen.
Erst in dem Moment, als er Liebe und Sexualität entdeckte, wurde es wirklich schwierig. "Nichts schien zu passen", sagt Schelle. Weder bei Männern noch bei Frauen gelang es ihm, er selbst zu sein. Schelle sagt, er schob das Thema immer wieder weg, steckte seine Energie in andere Dinge - Schule, Studium, seinen Glauben.
In der katholischen Kirche fand er jedoch keine Erfüllung. "Als Mädchen bin ich schnell an Grenzen gestoßen. Das erschien mir unfair", erklärt Schelle. Mit 18 Jahren konvertierte er zum protestantischen Glauben und stellte fest: "Vom Denken und vom Herzen war ich schon immer Protestant gewesen." Er studierte Theologie und bekam mit 30 Jahren seine erste Pfarrstelle in einer Gemeinde im Schwarzwald. "Ich stand beruflich da, wo ich wollte, und war trotzdem nicht glücklich."
Es geht um Identität
Er fragte sich, was an ihm "falsch" sei. Wieso die anderen eine Familie gründeten und bei ihm nichts in diese Richtung klappte. Eine Therapeutin machte ihn schließlich auf das Thema Transsexualität aufmerksam. Wobei Schelle den Begriff "Transidentität" bevorzugt. "Bei transsexuell denken viele, dass es etwas mit Sex zu tun hat", erläutert er. Aber es gehe um Identität.
Für ihn war es eine großartige Entdeckung: "Ich habe erfahren, mein Denken, mein Sein, das ist alles richtig", erzählt er. Auch mit seinem Glauben konnte er seine neue Identität in Einklang bringen. "Gott hat mich so geschaffen, wie ich bin - als transidenter Mann", betont Schelle. Überhaupt, gibt er zu bedenken, sei die Welt doch so vielfältig, warum sollte Gott sich ausgerechnet beim Geschlecht auf nur zwei Alternativen beschränken.
Transidentität als normale Möglichkeit
Einzig, ob er gleichzeitig Mann sein und als Pfarrer arbeiten könne, machte ihm Sorgen. Daher wechselte er zunächst die Pfarrstelle, ging nach Überlingen. Der Plan war, dort zwei Jahre zu bleiben, in dieser Zeit wolle Schelle seinen Namen und seinen Körper verändern. "Danach wollte ich dann in einer anderen Gemeinde neu als 'Herr Schelle' anfangen", erzählte er. Das sei jetzt aber gar nicht mehr so wichtig. "Ich habe hier von Anfang an so viel Unterstützung erfahren, dass ich gerne auch im Bezirk bleiben würde." Ob es noch andere transidente Pfarrer in Baden gibt, dazu äußert sich die Landeskirche aus Datenschutzgründen nicht.
Regine Klusmann ist evangelische Dekanin im Kirchenbezirk Überlingen-Stockach und Schelles Vorgesetzte. Er sei ein beliebter Pfarrer, sagt sie: "Durch seine fröhliche Art und seinen offenen Umgang mit dem Thema Transidentität gab es keine Probleme." Einige Nachfragen seien zwar gekommen, aber schnell sei klar gewesen, dass man sich sein Geschlecht nicht einer augenblicklichen Laune folgend aussucht, sondern dass Transidentität biologische Ursachen hat. Grundsätzlich, sagt Klusmann, sei es als Vorgesetzte ihr Bestreben, gar nicht so viel Aufhebens um das Thema Transidenität zu machen, sondern es als normale Möglichkeit zu betrachten.
Ein Name für das "Anders-Sein"
Schelle sieht das genauso. Er wünscht sich für die Zukunft einen offeneren Umgang mit dem Thema Geschlechtsidentität. Es wäre schön, wenn die Gesellschaft dem Geschlecht nicht so viel Gewicht beimessen würde. "Wir sollten Menschen nicht nach Mann und Frau sortieren, sondern besser nach Fähigkeiten und Eigenschaften", betont er.
Manchmal besucht er Schulen, um Jugendlichen von seinem Werdegang zu berichten. "Es ist wichtig, dass sie wissen, dass es Transidentitäre gibt", sagt er. Es sei für ihn kein Spaß gewesen, jahrzehntelang mit seiner Identität zu hadern. Sie sollten die Chance haben, schon in jüngeren Jahren einen Namen für ihr "Anders-Sein" zu bekommen - und einem ganz normalen Menschen zu begegnen, der eben transident ist. Dann seien die Menschen auch aufgeschlossener für das Thema.
Und auch für das kirchliche Leben hat Schelle noch eine Idee: "Es wäre schön, wenn es eine neue Kasualie gebe, um transidente Menschen zu begleiten", sagt er. Einen Gottesdienst für eine wichtige Lebensstation also, der Umbrüche wie seinen spiegelt. "Ich würde gerne noch einmal mit meinem neuen Namen, als Samuel Schelle, den Segen Gottes zugesprochen bekommen. Jetzt gibt es mich ja wirklich."