Schweigen, minutenlang. War da überhaupt noch jemand in der Leitung? Andrea, eine Mittvierzigerin mit kurzen, braunen Haaren, war sich nicht sicher: "Sie müssen mir ein Zeichen geben, dass Sie noch dran sind! Machen Sie irgendein Geräusch!" Tatsächlich drang da etwas aus dem Hörer. Andrea wartete geduldig. Erst nach 45 Minuten Stille konnte sich die Anruferin überwinden und über ihre Lebenskrise sprechen. "Ihr ging es wirklich schlecht", fasst Andrea das anschließende Gespräch zusammen.
Sie ist seit 2010 ehrenamtliche Mitarbeiterin der Kirchlichen Telefonseelsorge Berlin-Brandenburg. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, denn die Anrufe sollen von beiden Seiten anonym bleiben. Andrea stammt aus Thüringen, hat einen technischen Beruf erlernt, arbeitet inzwischen aber als freiberufliche Autorin. Wegen der Pandemie hat sie gerade wenig Aufträge. Umso mehr hat sie mit ihrem Ehrenamt zu tun. "Seit Beginn der Corona-Krise hat sich die Zahl der Anrufe mehr als verdoppelt", sagt der Sozialpädagoge Uwe Müller, der die Kirchliche Telefonseelsorge seit 1988 leitet.
Viele Menschen fühlen sich alleingelassen
Andrea übernimmt sonst vier bis acht Dienste im Monat, jetzt zehn. Ein Dienst erstreckt sich über vier Stunden. Manche Telefonate dauern wenige Minuten, andere 45 oder 90 Minuten. "In kaum einem Gespräch geht es nicht um Corona", sagt Andrea. "Manchmal beginnen die Anrufer mit einem anderen Thema, aber sie landen immer bei der Pandemie."
Sehr, sehr viele Menschen fühlen sich alleingelassen. Berlin ist ja ohnehin die Hauptstadt der Singles. Angesichts der Ausgangsbeschränkungen, so erzählt Andrea, leiden Alleinlebende darunter, dass sie nun auf Abende mit Freunden und Kursbesuche verzichten müssen: "Manche Menschen rufen morgens nach dem Aufstehen hier an, weil sie eine menschliche Stimme hören wollen." Das Gespräch trägt sie durch den Tag. Andrea hat auch schon mit Menschen geredet, die sich einsam fühlen, obwohl sie mit jemandem zusammenleben – einfach, weil niemand sie versteht. Sie erzählt von Anrufern, die schon vor der Pandemie an Verschwörungstheorien und den bevorstehenden Weltuntergang glaubten. "Sie waren gut vorbereitet, weil sie ohnehin Lebensmittel gehortet hatten", sagt sie. "Jetzt fühlen sie sich bestätigt. Einsam sind sie trotzdem, weil sie seit Wochen allein zu Hause sitzen."
Die Kirchliche Telefonseelsorge ist rund um die Uhr und kostenlos zu erreichen. Normalerweise übernehmen rund 140 Ehrenamtliche die Schichten in Berlin. Alle haben zuvor eine mehrmonatige Ausbildung durchlaufen. Viele von ihnen sind über 50 und haben Vorerkrankungen - gehören also zur Corona-Risikogruppe. "Zu Beginn der Pandemie bekam ich viele Anrufe: ‚Tut mir leid, aber ich möchte das Haus nicht verlassen!‘", sagt Uwe Müller. Daher hat er die Arbeit umorganisiert. Etliche ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind jetzt für das ökumenische Corona-Seelsorgetelefon tätig, das am 17. März seinen Betrieb aufnahm. Die Anrufe werden zu ihnen nach Hause umgeleitet.
Für die Kirchliche Telefonseelsorge stehen noch 90 Ehrenamtliche zur Verfügung, und diese erhalten wesentlich mehr Anrufe als zuvor. Uwe Müller erleichtert ihre Arbeit, indem er mehr Supervision anbietet. Sonst kommen die Ehrenamtlichen zur Gruppensupervision zusammen, um unter professioneller Anleitung über das Gehörte zu sprechen und es gemeinsam zu verarbeiten. "Jetzt können die Ehrenamtlichen zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren Supervisor oder ihre Supervisorin anrufen, sich gegenseitig oder auch mich", sagt Müller. "Es gibt Supervision als Videochat und in der Telefonkonferenz."
Die Telefonseelsorge hat ihre Büros in einem Altbau. Dort können die Ehrenamtlichen die Abstandsregeln perfekt einhalten, da alle ihr eigenes Büro beziehen. Überall hängen freundliche Bilder, stehen Blumen, brennen Kerzen. Durch die hohen Fenster fällt eine strahlende Frühlingssonne. Andrea fährt mit ihrem elektrischen Rollstuhl in einen Raum im Erdgeschoss. In ihrer bodenständigen Art scheint sie nichts aus der Ruhe zu bringen, auch nicht Corona. Sie habe keine Angst vor der Zukunft, auch wenn der Virus die Weltwirtschaft durcheinanderwirbelt. "Meine Frau geht noch arbeiten, die Miete wird also bezahlt", sagt sie. "Außerdem geben wir weniger Geld aus." Normalerweise setze sie sich gern in Cafés, um zu schreiben. Das ist jetzt nicht möglich.
Also konzentriert sie sich darauf, Menschen am Telefon zuzuhören. Die Anrufer wollten in der Regel keine perfekten Lebensratschläge, sondern einfach, dass sich jemand Zeit für sie nimmt. "Ich kann das gut - vielleicht, weil ich selbst schon viel erlebt und durchgestanden habe", sagt Andrea. Sie ist evangelisch getauft, geht aber kaum in den Gottesdienst. Sie kritisiert unter anderem, was manche Pfarrer über Homosexuelle sagen, und wie die Kirche den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen aufarbeitet.
Offen über Probleme sprechen - das war der DDR-Staatsmacht suspekt
Viel durchgestanden hat auch Uwe Müller. Er ließ sich 1977 als erwachsener DDR-Bürger evangelisch taufen und verweigerte kurz darauf den Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Das brachte ihm eine Verhaftung ein. Als die Kirchliche Telefonseelsorge ein Jahr vor dem Zusammenbruch der DDR gegründet wurde, standen Müller und die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Bewachung durch die Staatssicherheit. Dass Menschen offen über Probleme sprachen, war der Staatsmacht suspekt, so dass manchmal die Telefonleitungen plötzlich tot waren. Das lag wohl nicht nur an der maroden Technik, sondern auch daran, dass die Stasi es so wollte.
Von Beginn an kamen die meisten Anrufe von Frauen. "Sie haben ein ganz anderes Problembewusstsein als Männer", sagt Uwe Müller. "Sie sind auch viel eher bereit, sich Gedanken zu machen: Wo kriege ich Hilfe her?" Vor der Pandemie beobachtete Andrea, dass viele männliche Anrufer erst einmal längere Zeit plaudern wollten, ehe sie zum eigentlichen Grund ihres Anrufes vordrangen. Frauen könnten sofort darüber reden: "Sie haben oft heftige Themen. Sie wollen was bewegen im Leben." Die Corona-Krise mache es den Männern leichter, ihre Schwierigkeiten direkt anzusprechen, sagt Andrea. Zum Beispiel: "Ich bin schon wochenlang in Kurzarbeit. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf."
Auf die Panik unmittelbar nach dem Ausbruch der Pandemie folgten viele Anrufe, in denen es um Existenzängste ging. Jetzt macht sich nach Beobachtungen von Uwe Müller der "Lagerkoller" bemerkbar – das stundenlange Herumsitzen in der Wohnung, manchmal mit Menschen, zu denen der Anrufer oder die Anruferin ohnehin eine angespannte Beziehung hat. "Wir empfehlen dann, die Situation zu verlassen", sagt Müller: "Gehen Sie stundenlang spazieren! Und reden Sie darüber!"
Was die Zeit nach der Pandemie anbelangt, ist Uwe Müller, ebenso wie Andrea, ein unverbesserlicher Optimist: "Ich hoffe, dass wir italienische Verhältnisse kriegen: lebensbejahende, lustbetonte Verhältnisse", sagt er. "Dass wir viel mehr auf Kontakt und Gemeinschaftssinn setzen werden. Den anderen im Blick haben und sagen: Was kostet die Welt? Wir zahlen in bar. Wir genießen das Leben und leben es in Beziehungen."