Sie arbeiten seit 15 Jahren bei der Telefonseelsorge. Mit welchen Problemen melden sich die Menschen bei Ihnen? Gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Rudolf*: Eigentlich gibt es gar nicht so wirkliche "Männerthemen". Frauen haben etwas mehr zu tun mit selbstverletzendem Verhalten, also zum Beispiel mit Ritzen, Männer mehr mit Gewalt gegen andere. Ansonsten sind die Themen ähnlich. Manchmal sind es banale Dinge wie "dauernd sind die Parkplätze besetzt und immer bekomm‘ ich ein Knöllchen", oft aber auch schlimme Geschichten, wie "ich habe meinen Job verloren", "ich bin fürchterlich dick und werde ständig gemobbt" oder "ich wurde vergewaltigt".
Wie schaffen Sie es, über ein so schwieriges Thema wie Vergewaltigung zu reden?
Rudolf: Wir bieten in der Telefonseelsorge Beratung am Telefon, per Chat und per Mail an. Im Chat geht das manchmal so los: Der Anrufer - ich nenne die Klienten aus Gewohnheit alle "Anrufer" - schreibt "Hallo" und ich schreibe "Hallo" zurück. Wenn nach ein, zwei Minuten nichts von dem Anrufer kommt, frage ich: "Was führt Sie denn an einem so sonnigen Tag hierher?" Ich muss ein Gesprächsangebot machen. Man kann sich das vorstellen, als würde man eine alte Eisenbahn in Gang setzen. Bis irgendwann alles ineinandergreift und die Eisenbahn selbst in Bewegung kommt.
"Auch wenn es nicht um mich geht, bringe ich meinen Hintergrund mit"
Und dann fangen die Leute an, von Vergewaltigungen zu berichten?
Rudolf: Im Fall der Vergewaltigung hat der Anrufer geschrieben, er habe eine nicht so nette Erfahrung gemacht. - "In welcher Richtung?", habe ich gefragt. Nach drei, vier Minuten hat er geschrieben, dass ihn eine Arbeitskollegin vergewaltigt hat. Er hat nicht viele Details genannt. Ich habe mich natürlich sofort gefragt, wie das passiert ist. Aber mir war klar: Danach zu fragen, hilft dem Anrufer nicht weiter. Also habe ich versucht, ihm Hilfe in seiner Nähe aufzuzeigen. Ich habe gefragt, ob er schon bei einem Arzt war oder sich traut, den Betriebsrat zu informieren. Nach einer Dreiviertelstunde habe ich ihm von Familienberatungsstellen
erzählt. Wir verweisen gern an diese Stellen, weil man dort schnell einen Termin bekommt und sie sich sehr gut mit Lebenskrisen auskennen. Der Anrufer hat geantwortet, dass er mir für diese Information sehr dankbar sei.
Entlastet Sie das ein Stück weit, an Beratungsstellen verweisen zu können?
Rudolf: Ja, natürlich. Ich habe bei der Telefonseelsorge eine Ausbildung gemacht, die 15 Monate gedauert hat. Wir haben Anrufe zu verschiedenen Themen simuliert, über eigene Lebenskrisen gesprochen und echte Anrufe mit ausgebildeten Therapeuten besprochen. Das schafft ein gutes Fundament. Aber ich selbst bin kein Therapeut. Wenn jemand vergewaltigt wurde oder über eine Trennung weint, geht mir das nahe. Manchmal auch, weil ich das selbst gut nachvollziehen kann. Meine erste Ehe ist gescheitert, ich bin geschieden. Auch wenn es in den Gesprächen nicht um mich geht, bringe ich also meinen Hintergrund mit.
"Manchmal ist das vordergründige Problem nicht das eigentliche"
Spielt Ihr Glaube bei der Telefonseelsorge eine Rolle?
Rudolf: In den Gesprächen selten. Die Telefonseelsorge ist ökumenisch, also von der evangelischen und der katholischen Kirche getragen. Wir Berater fragen aber nie, was jemand glaubt.
Wir haben viel vom Chatten gesprochen. Rufen jüngere Leute überhaupt noch an?
Rudolf: Ja, denn die Stimme bedeutet ein Stück Nähe. Der Anrufer merkt: Jemand ist in dem Moment bei mir, in dem es mir schlecht geht, nicht erst später, wenn der Berater die Mail liest. Der Telefonseelsorger nimmt mich ernst, ich höre, dass er mich nicht auslacht. Ich als Berater bekomme natürlich auch mehr Informationen als per Chat oder Mail. Ich kann hören, wenn jemand beim Sprechen stockt und wie seine Umgebung klingt. Das hilft mir, ein genaueres Bild von dem Anrufer zu bekommen und herauszufinden, worum es ihm geht. Manchmal ist das vordergründige Problem nämlich nicht das eigentliche.
Wie meinen Sie das?
Rudolf: Der Anrufer denkt zum Beispiel, er habe Stress mit seinem Vorgesetzten. Und deshalb ruft er an. Im Gespräch stellt sich dann aber heraus: Die Kritik des Chefs ist berechtigt. Es geht mehr um die Art und Weise, wie der Chef redet - nämlich so, wie der Vater den Anrufer kritisiert hat, als dieser 16 Jahre alt war. Gemeinsam arbeiten wir das heraus. Denn wer verzweifelt ist, sieht oft nur bis zur eigenen Fußspitze.
Wie viel Zeit haben Sie für einen Anrufer und kann man Sie auch mehrmals anrufen?
Rudolf: Ich habe so viel Zeit, wie ich mir nehme. Meine Chats dauern in der Regel eine Dreiviertelstunde, weil man sich erst mal warmschreiben muss. Telefongespräche können dagegen auch mal nur wenige Minuten dauern. Man darf so oft anrufen, wie man möchte, allerdings landet man in der Regel aus organisatorischen Gründen nicht beim gleichen Berater.
* Rudolf (56) arbeitet ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge im Bereich Telefon-, Chat- und Mailberatung. Er möchte anonym bleiben. Der Text ist ursprünglich im "JS-Magazin - Die Evangelische Zeitschrift für junge Soldaten" erschienen (Ausgabe Januar 2020)