Corona-Virus
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Rote knubbelig-abstehende Stacheln auf einer grauen Kugel: Diese Illustration zeigt das Coronavirus.
Das Coronavirus – die 11. Plage?
"Tuet Buße! Bekehret Euch! Der Herr wird Euch für Eure Sünden bestrafen!" Das sind nicht etwa mittelalterliche Predigtworte, sondern aktuelle Töne aus evangelikalen Gottesdiensten, die weiter in drangvoller Enge stattfinden. Wer den richtigen Glauben hat, wird nicht krank! Die anderen aber müssen für ihre Sünden bereuen. So heißt es. In evangelikalen Kreisen zählen dazu etwa Homosexualität oder Abtreibungen, die nun eine göttliche Plage provozieren. Kann das sein, dass Gott nun mit Corona eine 11. Plage auf die ganze Menschheit herniedergehen lässt?

Markus Witte, Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität, plädiert für die historisch-kritische Einordnung der biblischen Plagen. Diese seien ca. 1.200 Jahre vor Christus geschrieben worden, die Endredaktion aber fand erst um 400 vor Christus statt. "Zunächst muss man die Erzählung als eine große Literatur- vor allem theologische Konstruktion der Geschichtsdeutung verstehen", sagt Witte. Dass derart dramatische Naturereignisse in den ägyptischen Quellen keine Spuren hinterlassen haben, ist ein Hinweis darauf, dass die zehn biblischen Plagen im 2. Buch Moses keine historischen Ereignisse widerspiegeln.

"Dass sich Nilwasser färbt, Frösche plötzlich auftauchen, Stechfliegen, Pest, Hagelstürme, sind Erfahrungen, die schon in der Antike in Nord-Afrika oder im östlichen Mittelmeer-Raum zu machen waren. Aber sie werden hier ganz bewusst literarisch konstruiert, um zu zeigen, dass der eigentliche Gott der kosmischen Ordnung nicht der Pharao ist, sondern der Gott Israels, JHWH", so Witte weiter.

Die zehn Plagen im Alten Testament hat es nach heutigem theologischen Kenntnisstand so gar nicht gegeben, sondern sie wurden zusammengereimt, um zu zeigen, dass der Gott Israels stärker ist als alle anderen Götter und Götzen gegen ihn. Die Plagen sind Teil der Exodus-Erzählung, die mit dem Auszug der Kinder Israels das bis heute gültige Pessach-Fest begründet. Daraus entstand sehr viel später mit der Erzählung von der Auferstehung Jesu Christi das christliche Osterfest. Aber ist das alles nur eine fromme Legende, oder ist das auch heute noch denkbar?

"Es gibt im Judentum keinerlei Gedanken, es gebe jetzt eine elfte Plage oder eine zwölfte Plage", sagt Rabbiner Nils Ederberg, der in der Potsdamer Rabbiner- und Kantorenausbildung tätig ist: " Die zehn Plagen sind nicht etwas, was immer wieder als Muster genommen wird für Katastrophen der eigenen Zeit. Die Frage ist, was ist Mehrheitsmeinung und was denkt sich irgendein Idiot auch noch in seinem Kämmerlein oder in seiner Internet-Echo-Kammer aus."

So ähnlich sieht das auch Alttestamentler Markus Witte. Dass nun etwa US-amerikanische Evangelikale behaupten, die Corona-Pandemie sei eine Strafe Gottes, muss er als historisch-kritisch arbeitender Theologe hinterfragen. Denn für seine akademische Wissenschaft gilt: "Dass wir in der Gegenwart uns häufig scheuen, Ereignisse des Alltags mit einem Handeln Gottes in Verbindung zu bringen."

Man kann auch sagen, wer die Corona-Pandemie als elfte Plage Gottes ansieht, der projiziert eigene Rachephantasien auf einen Gott, der vermeintliche Sünden mit brutaler Gewalt beantwortet, schreibt etwa die Pastoraltheologin Regina Polak in einem aktuellen Debattenbeitrag. In evangelikalen Kreisen zählen zu diesen vermeintlichen Sünden beispielsweise Homosexualität oder Abtreibungen, die nun eine göttliche Plage provozieren. Solche Phantasien seien "verantwortungslos, brandgefährlich und abzulehnen", so Polak weiter. Wer heute genau wisse, was Gottes Werk und Wille sei, der nehme den Mund ziemlich voll. Es könne zwar eine Deutung sein, aber bestimmt nicht die allein gültige, meint Alttestamentler Markus Witte: "Das ist die Unverfügbarkeit der Deutungen. Es ist Aufgabe jedes Einzelnen, für sich zu entdecken, ist das eine Strafmaßnahme, eine Erziehungsmaßnahme, eine Reifungsmaßnahme, oder entzieht sie sich einer Erklärung?"

Das Leben - ein tägliches Geschenk

Dass Gott nun die elfte Plage gesandt hat, scheint eine theologische Randmeinung zu sein. Sich aber andererseits darauf zu versteifen, dass Gott nur gut ist und Gott nur ein liebender und verzeihender sein kann, hält Rabbiner Nils Ederberg nun auch wieder für zu schlicht: "Es gibt nicht die eine Antwort: 'Gott ist die Liebe'! Das erscheint vielen Menschen in einer Krisensituation zu kurz. Und was Judentum möglicherweise beitragen könnte ist, dass wir aus der biblischen Erfahrung, aber auch aus der nachbiblischen historischen Erfahrung bis in unsere Tage immer wieder Unheil, Mord, Tod erlebt haben und insofern in der jüdischen Erfahrung Leiden, Ungerechtigkeit, ungerechtes Leiden präsenter ist, als vielleicht in anderen Traditionen."

Für Juden etwa sei weniger eine Pandemie das Problem, als vielmehr der Hass zwischen Menschen. Antisemitismus eben. Das relativiere jede medizinische Krise. Das heiße natürlich nicht, dass die aktuelle Situation jetzt unwichtig sei. Jedem sei klar, dass ein "easy going" und "weiter so" vom heutigen Standpunkt aus nur noch schwer vorstellbar sei. Alle Menschen spürten und erlebten jetzt, dass das Leben unverfügbar und letztlich ein tägliches Geschenk sei. Insofern seien gerade in der heutigen Situation die biblischen Bilder hoch aktuell und könnten Orientierung geben, sagt Nils Ederberg.

Ederberg fügt hinzu: "Wir sind heute in einer Situation, dass wir einen Großteil der Lebensumstände so im Griff haben, wie man es sich früher gar nicht vorstellen konnte. Wir haben ein Gesundheitssystem, ein Verkehrssystem. Wenn es eine schlechte Ernte gibt, können wir Essen woanders hinbringen. Wir haben Schwierigkeiten, diese grundsätzliche Ausgeliefertheit von vormodernen Menschen gegenüber den Kräften der Natur zu verstehen. Insofern ist die Corona-Pandemie eine Situation, dass wir zurückgeworfen werden auf eine Lebenserfahrung, die früher normal war und der wir uns überhaupt erst wieder annähern müssen."