Wenn Zvi Ben-Ami dieser Tage mit seiner Gitarre zur Arbeit geht, dann stimmt der 61-jährige Musiktherapeut häufig Pessachlieder an: "Was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten?" singt er mit dementen alten Menschen im Pflegeheim: "Ma nischana haleila hase mikol haleilot?" Und "Wer weiß was eins ist?", "Echad, mi jodea?". Ein Lied, das die Senioren schon als Kinder gesungen haben, als sie das Zählen lernten. Eins ist Gott, zwei sind die Tafeln der zehn Gebote, und so weiter bis zehn. Das Pessach-Fest erinnert an den Auszug der Israeliten aus Ägypten, an den schwierigen Weg in die Freiheit. Christen ist es auch aus dem Neuen Testament als "Passah-" oder "Paschafest" bekannt.
Einige der fünfzehn Männer und Frauen blicken teilnahmslos, andere brummen. Bei "Sklaven waren wir in Ägypten" (Avadim hajinu) singt eine alte Dame laut mit und klatscht sogar in die Hände. Zvi lobt auf Deutsch, denn die Dame stammt aus Frankfurt: "Fantastisch, dass du das weißt." Und: "Toll, wie du das machst." Die anderen lobt er in anderen Sprachen: auf Jiddisch, Englisch, Französisch und Hebräisch: "Mezujan", "awesome", "fantastique".
Bitterkraut erinnnert an die Sklavenarbeit
"Auch wenn sie vieles vergessen haben, Pessachlieder rufen bei ihnen ein Gefühl wach", sagt Zvi Ben-Ami. Diese Lieder habe jeder Jude und schon gar jeder Israeli noch von seiner Kindheit im Blut. Das passt gut, denn an Pessach geht es um Erinnerung, um die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Ein religiöses Gebot schreibt vor, dass sich jeder so an den Auszug aus Ägypten erinnern soll, als wäre er selbst dabei gewesen. Damit das funktioniert, haben sich die Rabbinen jede Menge einfallen lasssen. Bitterkraut soll an die bittere Sklavenarbeit erinnern. Ein Gemisch aus Apfel, Honig und Zimt an den Lehm, den die Sklaven brennen mussten. Und Salzwassertropfen an die Tränen in Ägypten. "Seder" nennt sich der Abend. Seder bedeutet Ordnung. Alles läuft an diesem Abend nach einer vorgeschriebenen Ordnung ab. Manche der alten Leute werden von ihren Kindern oder Enkeln zu einem Seder abgeholt, andere müssen mit einem weniger schönen Seder im Pflegeheim vorlieb nehmen.
Zvi selbst ist kein großer Fan des Pessachfestes. In seinem Bekanntenkreis ist er der einzige, der den Sederabend nicht begeht. Sich bei Freunden dazuzusetzen, kommt für ihn auch nicht in Frage. "Das passt nicht zu mir", sagt der Musiktherapeut. Er sieht den Sederabend als religiöses Ereignis, und Religion interessiere ihn nicht. Esoterik findet er interessanter. Zudem gehe an Pessach um die Befreiung "der Juden", aber die ganze Menschheit interessiere ihn mehr als nur die Juden. Doch einen Sederabend in Israel ignorieren - das ist wie Heiligabend in Deutschland im Büro verbringen. Zvi löst das Problem meist pragmatisch. Häufig bucht er eine Reise nach Deutschland oder Österreich. Seine Mutter stammte aus Österreich, deutsch war Zvis erste Sprache.
Im Kreise der israelischen Großfamilie
Die Tourismusfachfrau Tali Chalfon freut sich hingegen auf ein Pessachfest im Kreise der Familie, der israelischen Großfamilie: Die Onkel werden kommen, die Tanten werden kommen, die Neffen und Nichten werden kommen. Ungefähr 30 bis 40 Personen sind am Seder-Abend im Haus der Eltern. Bislang hat Talis Mutter für alle gekocht, aber jetzt ist sie etwas älter. Von diesem Jahr an wird jeder etwas mitbringen. "Essen ist bei fast allen jüdischen Festen wichtig", sagt Tali. "Wir mögen die Gemeinschaft, wir sind gerne zusammen, einer sorgt für den anderen." An Pessach gefalle ihr besonders, dass sie die Familie sieht, auch entferntere Verwandte, die sie sonst selten zu Gesicht bekommt. Eine Woche Ferien - das sei doch wunderbar. Außerdem ist in der Regel das Wetter zur Pessachzeit in Israel gut.
Da die Haggada, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten, sehr lang ist, lesen die meisten säkularen Israelis nur Teile davon. Viele hören nach dem Essen auf. Ouzi Rotems Familie verzichtet auch auf Teile, die nicht mehr zeitgemäß seien. "Wir lassen oft die Stellen weg, die sich gegen die anderen Völker, gegen die Nicht-Juden richten", sagt der Lehrer in den Vierzigern, der in Jerusalem Unterricht in biblischem Hebräisch für christliche Theologiestudenten gibt. "Die Stelle mit den zehn Plagen, das lesen wir, aber nur kurz." Überhaupt setzt Ouzis Famlie viele eigene Akzente: Da Ouzis Mutter im Kibbutz auf dem Land aufgewachsen ist, in einer Welt, die viel mehr mit Sozialismus, Spaten und Traktoren zu tun hat als mit Religion, singen die Verwandten viele Lieder mit Bezug zur Landwirtschaft.
Wer die traditionelle Seder-Liturgie nicht mag oder seine Familie nicht sehen will, kann auf zahlreiche Alternativangebote zurückgreifen: Es gibt pazifistische und patriotische Seder, feministische, schwul-lesbische, ökologische, atheistische und agnostische Feiern. Wohltätige Organisationen bieten Seder-Feiern für Bedürftige an. Wer nicht kochen möchte, kann zu horrenden Preisen ins Restaurant gehen. Denn Restaurants, die am Sederabend öffnen, lassen sich das teuer bezahlen.
Keine Nudeln, kein Brot, keine Kekse
Die Bibel und die jüdische Traditionsliteratur schreiben vor, dass man während der gesamten Pessachzeit nichts "Gesäuertes" isst, wie es heißt, keinen "Chametz": Gemeint ist neben Sauerteig alles, was gehen muss oder quillt: also Nudeln, Brot, Kekse, für nordeuropäische Juden auch Reis und Linsen. Der biblische Hintergrund: Als die Israeliten aus Ägypten flüchteten, mussten sie eilig Brot backen und hatten keine Zeit, den Teig gehen zu lassen. Auch in einer säkularen Stadt wie Tel Aviv schließen während der Pessachtage die Bäckereien. Stattdessen kann man überall Maza kaufen: sehr trockenes ungesäuertes Brot ohne Geschmack. "Am Sederabend essen wir keinen Chametz, aber in den Tagen danach durchaus," sagt Ouzi Rotem. "Meine ganze Familie isst Chametz." Brot zu bekommen sei kein Problem. Schließlich wohnt Ouzi im Tel Aviver Stadteil Florentin in der Nähe von Jaffa. "Wir können schnell rüberlaufen und unser Brot beim arabischen Bäcker kaufen. Andere frieren sich ihr Brot ein."
Wieder andere Familien versuchen, tatsächlich eine Woche lang ohne Chametz auszukommen. Zum Beispiel Tali Chalfons Familie: Brot und Nudeln sind während der Pessachtage tabu. "Mein Mann ist religiöser als ich," sagt die Mutter dreier Kinder. "Seit wir zusammen sind, bringe ich an Pessach keinen Chametz ins Haus."
Doch damit sind längst nicht alle Gebote erfüllt. Denn die Halacha, das jüdische Religionsgesetz schreibt vor, vor Pessach sämtlichen Chametz aus dem Haus zu entfernen, die Schränke auszuputzen und die letzten Krümel zu verbrennen - für die vielen orthodoxen Familien in Israel eine Selbstverständlichkeit. Auch Tali macht einen Frühjahrsputz. Doch Brot und Nudeln, die sie im Haus hat, wirft sie nicht weg, sondern verwahrt sie in einer Schublade, bis Pessach vorbei ist.