Judengliche haben Religionsunterricht online während Corona-Krise
© Getty Images/Pascal Deloche
Auf religionsunterricht.net finden Lehrkräfte und Schüler kostenloses Unterrichtsmaterial für den Religionsunterricht während der Corona-Krise. Doch der Religionsunterricht soll während der Pandämie nicht nur digital verlaufen.
So läuft digitaler Religionsunterricht zu Hause während der Corona-Krise
Die Behörden haben die Schulen bis zu den Osterferien geschlossen, um eine Ausbreitung des Corona-Virus‘ zu verlangsam. Zusammen mit Informatiker Frank Staude und anderen Engagierten haben Friederike Wenisch, Religionslehrerin und ab April Mitarbeiterin am Pädagogisch-Theologischen Zentrum Stuttgart, und Joachim Happel, Leiter von rpi-virtuell am Comenius-Institut in Münster, übers Wochenende eine Seite gebaut, auf der sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schüler kostenlos Unterrichtsmaterial für die kommenden Wochen finden. Im Interview erzählen die beiden, wie das Projekt funktioniert, in welchen Bereichen es beim digitalen Lernen noch Nachholbedarf gibt und warum der Religionsunterricht nicht vernachlässigt werden sollte.

Sie haben eine Seite als Sofort-Hilfe für Religionslehrkräfte ins Leben gerufen. Was kann man sich darunter vorstellen?

Joachim Happel: Auf der Seite religionsunterricht.net bekommen Lehrkräfte kostenlos und ohne Log-In aufbereitete Inhalte, die sie sofort selbst nutzen, weitergeben oder verlinken können. Die Materialien decken inhaltlich die Klassenstufen fünf bis zwölf ab und sollen zeitlich ungefähr bis zu den Osterferien reichen. Die Inhalte und Materialien sind so angelegt, dass die Lehrerinnen und Lehrer sie auch an die eigenen Bedürfnisse anpassen dürfen.

Wir geben den Lehrkräften quasi die Wahl: Sie können sich die Vorschläge auf der Seite anschauen und sie als Impuls nehmen, sie können einzelne Inhalte verwenden oder sie können auch den Link nehmen und ihre Schülerinnen und Schüler direkt auf die Seite schicken. All das ist denkbar.

Wie ist die Seite konkret aufgebaut?

Friederike Wenisch: Zuerst einmal haben wir die Klassenstufen in Doppeljahrgänge aufgeteilt. Und dann haben wir anhand der Bildungspläne sieben Lernbereiche erstellt. Das sind die Bereiche "Mensch", "Welt und Verantwortung", "Bibel", "Gott", "Jesus Christus", "Kirche und Kirchen" sowie "Religionen und Weltanschauungen".

Joachim Happel
Joachim Happel

Joachim Happel ist Pfarrer, Leiter von rpi-virtuell und twittert unter @johappel.

Happel: Da Friederike die Materialien übers Wochenende erarbeitet hat und sie Lehrerin in Baden-Württemberg ist, sind die Projektarbeiten im Augenblick schwerpunktmäßig natürlich an den württembergischen Bildungsplänen ausgerichtet. Aber es ist so eingerichtet, dass jede Einheit immer wieder einen Bezug bekommt zu den jeweiligen Bildungsplänen. Das heißt, wenn jetzt eine Lehrerin oder ein Lehrer ein anderes Material einbringt, dann würde sich natürlich der Bezug zu ihren Bildungsplan einrichten. Und unser Ziel ist es schon, dass die Seite in Zukunft ausgebaut wird. Es soll nicht nur bei Projektarbeit bleiben, sondern es soll dort Ideen für den Unterricht zu den verschiedenen Anforderungen aus den Bildungsplänen aller Bundesländer geben.

Wenisch: Im Idealfall möchten wir mit vielen Religionspädagogen zusammenarbeiten und viele Vorschläge sammeln. Das soll dazu führen, dass Lehrerinnen und Lehrer dank der fertigen Formate ein bisschen weniger Arbeit haben und die Möglichkeit bekommen, die Kinder schnell mit entsprechenden Materialien zu versorgen. Wir bemühen uns, die Arbeitsaufträge zeitgemäß zu gestalten. Wenn sie es nicht sind, dann kann man gern darüber diskutieren. Wir wollen mit dieser Seite insgesamt gern neue Austausch- und Lernhorizonte eröffnen. Und natürlich die Arbeitsformen und -möglichkeiten auf Basis von OER (An. d. Red.: Open Educational Resources - freie Lern- und Lehrmaterialien mit einer offenen Lizenz wie etwa Creative Commons oder GNU General Public License) bekannter machen und vorantreiben.

Die Macher von religionsunterricht.net freuen sich, wenn viele Lehrerinnen und Lehrer sich mit eigenen Vorschlägen beteiligen.

Alle Leute, die Lust haben, sind herzlich eingeladen, an unserem Maker-Space teilzunehmen und zu gucken, wie wir OER auf ganz neue Füße stellen können. Denn das ist der Vorteil von Religion: Wir sind bestens vernetzt, wir haben stabile Strukturen und wir haben die wunderbare Unterstützung eines extrem flexiblen und schnellen Systems. Lasst uns das doch nutzen und religiöser Bildung zu etwas machen, was wunderbar ist und den Menschen und den Kindern wirklich hilft.

Wie gestalten sich die Aufgaben auf der Seite inhaltlich?

Wenisch: Ich bin eine Verfechterin davon, dass nicht immer alles digital sein muss. Es wird hier nur digital hinterlegt, aber wir setzen bei der Aufgabenstellung immer bei den Emotionen oder der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler an. Außerdem sollte es immer handlungs- oder produktionsorientiert sein.

Tagebuch über glückliche Ereignisse führen - das ist einer der Projektvorschläge aus dem Bereich "Mensch" für die 5. und 6. Klasse.

Für die 5. und 6. Klasse habe ich zum Beispiel ein Schreibprojekt in Tagebuchform vorgesehen: Eine Woche lang sollen sie ihr schönstes Erlebnis notieren. Denn die nächsten Wochen werden vermutlich eine recht einsame Zeit und diese Aufgabe soll die Kinder ein wenig in der Achtsamkeit schulen. Für Schülerinnen und Schüler, die sich unsicher sind oder Impulse brauchen, habe ich selbstverständlich auch einen Bereich mit kleinen Hilfen eingebaut. Das ist alles sehr schülerzentriert, sie sollen gleich mit den Materialien arbeiten können und sich auch nicht mit der Aufgabenstellung alleingelassen fühlen.

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In wieweit kann der Einsatz dieser Seite nicht nur den Religionsunterricht "ersetzen", sondern auch später noch hilfreich sein?

Wenisch: Die Vorschläge in den Themenbereichen beinhalten sehr oft Präsentationsprodukte, die eventuell als Klausur-Ersatz gewertet werden können. Das ist für die Lehrkräfte wichtig, weil die sich natürlich darüber Gedanken machen müssen, wann und wie sie nach der Wiedereröffnung der Schulen ihre Leistungsmessungen gestalten. Das kann ich verstehen. Aber ich möchte gleichzeitig auch nicht, dass meine Schülerinnen und Schüler unter Druck gesetzt werden. Die werden so viel mit den Hauptfächern zu tun haben, weil in denen garantiert Klausuren geschrieben werden. Ich glaube, da können wir auch die Vorteile dieser sogenannten "weichen" Fächer wie Religion nehmen und sagen: "Es gibt eine Klausurersatzleistung. Das ist das Produkt eurer Online-Aufgabe und das werde ich wie folgt bewerten." Und die Schülerinnen und Schüler sind dann womöglich auch erleichtert, weil sie wissen, dass sie eine Klausur weniger zu schreiben haben.

Schülerinnen und Schüler können sich zu Hause mit verschiedenen Bibelauslegungen auseinandersetzen - mit Hilfestellungen für die 9. und 10. Klässler.

Wie gut sind die Lehrkräfte Ihrer Ansicht nach gerade darauf ausgerichtet, tatsächlich digitalen Unterricht anzubieten?

Happel: Dass man jetzt ad hoc von zu Hause aus unterrichten soll, passt in das Schema der allerwenigsten Leute. Nur sehr wenige haben das vorher überhaupt schon mal ausprobiert. Deshalb glaube ich, dass sich viele Lehrkräfte in der jetzigen Situation überfordert fühlen. Jeder ist bereit, das alles nach Kräften mitzutragen und mitzumachen, aber es stellt sich die Frage, wie das genau funktionieren soll. Eine Aufgabe auf einen Mebis-Server (An. d. Red.: für den Fernunterricht gedachte Online-Plattform) hochladen? Das geht ja noch. Aber was passiert weiter? Wie soll der Unterricht zum Erfolg kommen? Nur die allerwenigsten Lehrkräfte haben eine Vorstellung davon, wie Lehren und Lernen aus der Distanz erfolgreich umgesetzt werden kann.

Wenisch: Und dann gibt es auch noch die datenschutzrechtlichen Schwierigkeiten, die immer noch nicht abschließend geklärt und gelöst wurden. Da sehe und erlebe ich ganz viel Unsicherheit, Unaufgeklärtheit und auch ganz viel unerledigte Arbeit, die eigentlich direkt hätte gemacht werden müssen.

Welche zum Beispiel?

Wenisch: Es geht darum, ein Bewusstsein für Datenschutz und Lizenzen zu schaffen. Man sollte nicht einfach irgendwo etwas für seine Schülerinnen und Schüler hochladen. Denn nur, weil es geht, heißt es nicht, dass es erlaubt ist. Deswegen bitte ich immer alle: Achtet bitte auf die Lizenzen, achtet darauf, was rechtlich sauber möglich ist. Auch da herrscht große Unaufgeklärtheit. Viele wissen einfach gar nicht, was geht und was nicht. Und deswegen plädiere ich immer für OER-Lösungen:  Da bewegt man sich auf der rechtlich sicheren Seite. Aber das ist so weit weg von der Realität vieler Lehrkräfte, weil sie es schlichtweg nicht kennen.

Aber ich finde es auch wirklich überfordernd, dass man einerseits den Lehrerinnen und Lehrern sagt: "Macht mal!" Und ihnen andererseits dann aber auf die Finger haut und sagt: "Das dürft ihr nicht!" Viele motivierte Kolleginnen und Kollegen machen sich Gedanken und entwickeln Pläne, die werden dann aber von den Hierarchen ausgebremst. Das habe ich zumindest von Lehrerinnen und Lehrern in Niedersachsen gehört. Und auch aus meinem Umfeld kamen Einwände: Man müsse erstmal darüber reden, ob ich digitale Angebote für meine Schülerinnen und Schüler machen dürfe, weil andere das ja nicht bekämen.

"Wenn wir das nutzen, sind wir auf einem sehr guten Weg, Schule an manchen Punkten neu zu denken"

Wie wurde die Situation gelöst?

Wenisch: Ich habe grünes Licht bekommen. Sollte es nochmal so einen Shutdown geben, brauchen wir Leute, die es schon ausprobiert haben und die wissen, was geht und was eben nicht. Wir müssen ja nicht die gleichen Fehler mehrfach machen, sondern können dann den anderen helfend zur Seite stehen. Und unter diesen Umständen darf ich es machen.

Sie haben fehlendes Wissen über die Funktionalität von Distance-Learning angesprochen, Herr Happel. Wo fehlt konkret Erfahrung?

Happel: Es fehlt an Wissen darüber, wie Lernprozesse ablaufen und funktionieren, wenn ich eine Schülerin oder einen Schüler nicht permanent kontrolliere und auch nicht sehe, was er oder sie macht. Außerdem fehlt uns die Erfahrung in der Feedback-Kultur. Denn es ist schlicht unmöglich, dass eine Lehrkraft in einer eins-zu-eins-Situation jeden seiner womöglich mehr als 300 Schüler betreut. Da müssen Formen des gegenseitigen Feedbacks – also Peer-Review – eingeübt werden. Und das ist jetzt gerade alles noch recht neu für uns. Aber wenn wir das nutzen, sind wir auf einem sehr guten Weg, unsere Schule an manchen Punkten neu zu denken. Und ich glaube, dass das so oder so kommen muss - völlig unabhängig von Corona.

"Wir werden damit allein gelassen und müssen es irgendwie auf eigene Beine stellen"

Wie könnte digitale Kommunikation im schulischen Kontext genutzt werden und welche Rahmenbedingungen bräuchte es dafür?

Wenisch: Ich finde Zoom-Konferenzen hilfreich, denn ich kenne keinen Gruppenchat, der so einfach gemacht werden kann wie über Zoom. Dafür brauche ich aber einen Account, der nicht über die USA, sondern über Europa gerootet wird. An solchen Lizenzen ist die EKD gerade dran. Denn nur so kann ich die Daten meiner Schülerinnen und Schüler schützen. Und wenn ich das nicht mache, mache ich mich perspektivisch strafbar – das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Sollte ich keine datenschutzkonforme Zoom-Lizenz kriegen, würde ich es trotzdem versuchen, die Eltern aufklären und das Angebot schaffen. Weil ich der sozialen Komponente von Schule Rechnung tragen will und nicht möchte, dass meine Schülerinnen und Schüler vereinsamen oder denken, sie wären allein auf weiter Flur.

Es ärgert mich, dass die Schulen und Bundesländer uns keine sicheren Kommunikationsmittel – wie Messenger oder Videokonferenz-Tools – geben. Wir werden damit allein gelassen und müssen es irgendwie auf eigene Beine stellen. Dabei ist Bildung Ländersache – nur habe ich da bisher nur wenig Lösungsansätze gesehen. Und das finde ich unverantwortlich. Es ärgert mich für meine Schülerinnen und Schüler und ich sehe da ganz dringenden Handlungsbedarf.

Wie sieht es da im kirchlichen Bereich aus?

Happel: Es ist ja schon ein besonderer Glücksfall, dass eine Gliedkirche – in diesem Fall die württembergische – ab April jemanden wie Friederike mit einer halben Stelle für diesen Bereich beschäftigt. Es ist leider so – selbst wenn man die zweieinhalb Stellen-Ressourcen von rpi-virtuell dazu zählt – dass wir in dem Bereich gemessen am Bedarf unterbesetzt sind.  Und in so einer Zeit wie jetzt sieht und merkt man das natürlich besonders. Wir sind vom Knowhow her in der Lage und können uns vorstellen, Szenarien wie diese zu lösen, aber wir haben weder die technische noch die personelle Ausstattung, um angemessen zu agieren. Wir könnten eigentlich viel mehr machen, wir könnten viel präsenter sein – wenn wir die Ressourcen dazu hätten. Aber vielleicht liegt in dieser Erkenntnis ja auch eine Chance, die wir nutzen können.  

"Es wird befürchtet, dass die soziale Isolation und die Schließung der Schulen zu einem noch viel größeren Auseinanderklaffen der sozialen Schichten führt"

Ein weiteres Hindernis kann die fehlende Infrastruktur darstellen – kein oder nur ein sehr langsamer Internetzugang zu Hause, kein Laptop oder kein Smartphone. Wie kann man damit umgehen? Und welche Folgen hat das?

Happel: In dem Moment, in dem ich nicht mal mehr diese Seite aufrufen oder auch keinen Auftrag per Mail "abholen" kann, habe ich ein riesengroßes Problem. Das stimmt. Ich wüsste jetzt spontan aber auch nicht, wie man das jetzt auf die Schnelle lösen könnte. Aber es muss gelöst werden.

Wenisch: Es wird zurecht befürchtet, dass diese soziale Isolation und die Schließung der Schulen zu einem noch viel größeren Auseinanderklaffen der sozialen Schichten führen wird, weil tatsächlich die Isolation und der Nicht-Zugriff auf die Möglichkeiten bereits vorhandene Unterschiede noch verschärft. Das ist leider nicht aus der Luft gegriffen.

"Religionsunterricht ist fächerübergreifend wichtig"

Warum ist es im Augenblick überhaupt wichtig, dass Schülerinnen und Schüler weiterhin Religionsunterricht machen können? Sollte man sich nicht erstmal auf die Hauptfächer konzentrieren?

Wenisch: Religionsunterricht ist fächerübergreifend wichtig. Man braucht dieses Wissen, um Literatur, Geschichte oder Kultur zu verstehen. Mit meinem Deutschkurs mache ich zum Beispiel gerade die Lektüre-Arbeit zu "Damals war es Friedrich" und hier ist der Religionsunterricht massiv wichtig, damit die Schülerinnen und Schüler verstehen, was Judentum und Christentum überhaupt sind.

Und ein Großteil meiner Schüler ist religiös auch im Katholizismus oder Protestantismus zu Hause. Sie verstehen durch den Unterricht ihre eigene Kultur und ihre eigene Geschichte besser. Und sie lassen ihre Glaubensauffassung auch in den Unterricht miteinfließen. Ich finde es nur legitim, wenn man diesem Bedürfnis und diesen Wurzeln Rechnung trägt.