Den Blick aushalten
Zusammenhalt in Zeiten von Corona
Wie kann man mit dem Leid in der Welt, aber auch mit persönlichem Leid umgehen? Wer mit Schmerz und Leiden konfrontiert ist und genauer hinschaut, sieht im Kreuz auch Zeichen des Lebens, predigt Pfarrer Nico Szameitat in der Kirche St. Ansgar in Oldenburg im ZDF-Fernsehgottesdienst.

Pfarrer Nico Szameitat: Es ist schon ein paar Jahre her: Ich hatte gerade angefangen hier im Chor zu singen. Dann kam der erste Gottesdienst, ich stand da oben auf der Empore, sang mit, und überlegte mir so zwischendurch: Könnte ich in dieser Kirche eigentlich auch Pastor sein?

Und ich dachte ziemlich schnell: Nee. Mit dem ganzen Metall da vorne! Das Taufbecken, der Altar, die Kanzel. Vor allem das riesige Kreuz wie ein Monster von der Schrotthalde. Mich jeden Sonntag daran abarbeiten, an dem ganzen kalten Metall - das kostet doch viel zu viel Energie. Nee!

Und jetzt bin ich seit einem Jahr Pastor hier an St. Ansgar. Die Kirche mit der Ausstattung, die keinen kalt lässt. "St. Ansgar? Das ist doch die mit dem komischen Kreuz, oder?" Ja, genau. Das sind wir.

Aber es ist doch auch schwierig: Da muss ich mich die ganze Woche schon mit dem Alltag herumplagen: Da heulen die Kinder auf dem Schulhof, die alte Mutter zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück, die Nachrichten spucken immer neue Katastrophen aus: Flüchtlingsdrama. Corona-Pandemie.

Da geh ich doch sonntags in die Kirche, um zur Ruhe zu kommen, um was Schönes zu hören und vielleicht auch was Schönes zu sehen. Und dann sehe ich dieses Kreuz. Und schön ist es ja nun wirklich nicht.

Warum muss ich mir das in der Kirche antun?

Warum muss ich sonntags auf das Leid schauen? Was soll das?

Mir persönlich gibt das was. Wenn ich den Blick auf das Kreuz richte, diesen Blick aushalte, und wenn ich das nicht alleine tue, sondern mit euch zusammen, dann kann ich sowas wie "heil" werden.

Es gibt eine Geschichte im Alten Testament, da kommt auch so ein Metallgestänge vor. Es steht mitten in der Wüste. Und auch die Israeliten halten den Blick aus. Und sie werden heil.

Und so beginnt es: Dass der Weg kein Zuckerschlecken wird, das war den Israeliten ja klar, als sie damals loszogen aus Ägypten, als Mose sie herausführte aus der Sklaverei. Ja, sie waren sogar bereit gewesen, durch die Wüste zu ziehen um in das Gelobte Land zu gelangen, wo Milch und Honig fließt. Aber wie hart es wirklich werden würde, hatten sie nicht geahnt.

Mehrere Schicksalsschläge haben sie zuletzt heimgesucht. Wertvolle Menschen sind gestorben. Eigentlich ist das Gelobte Land gar nicht mehr so weit entfernt. Wenn man die Nase in den Wind hebt und die Augen schließt, dann kann man Milch und Honig schon ahnen, schon riechen! Aber plötzlich steht da ein fremdes Volk und sagt: "Nö, ihr kommt hier nicht durch." Mose geht zu den Israeliten. "Wir müssen zurück. Den ganzen Weg. Bis zum Schilfmeer." Das ist nicht einfach nur ein Umweg, das ist eine Katastrophe.

Karin Kaschlun: "Da brachen die Israeliten auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das fremde Land zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete gegen Gott und gegen Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt? Damit wir sterben in der Wüste? Denn es gibt weder Brot noch Wasser hier. Und uns ekelt vor dieser mageren Speise." 4. Mose 21,4-5

Pfarrer Nico Szameitat: Wenn auf deinem Lebensweg das Schicksal zuschlägt, und sei es mehrfach, dann darfst Du eines nicht machen: Dann darfst Du keine Scheuklappen aufsetzen!  Aber genau das machen die Israeliten.

Zunächst vergessen die Israeliten die Vergangenheit. Sie vergessen, dass Ägypten ein Todesland war. Sie blicken zwar zurück, aber sie schauen gar nicht richtig hin. Sie verdrängen die Ungerechtigkeit, den Hunger. Sie verdrängen sogar, dass Menschen gestorben sind! Sie vergessen, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. Immer wieder gibt es Menschen, die auch die Zeit in der DDR verklären. "So schlimm war das doch gar nicht. Man musste sich halt arrangieren."

Und überhaupt: "Früher – auch hier im Westen – war doch alles besser." Aber war früher wirklich alles besser? Die Menschen blicken zurück, aber sie schauen nicht richtig hin.

Und dann vergessen die Israeliten auch noch die Zukunft. Das Gelobte Land ist durch das Nein des fremden Volkes wieder in weite Ferne gerückt. Aber es ist ja nicht verschwunden! Es ist doch immer noch da! Die Menschen geben die Zukunft auf: "Man kann ja doch nichts machen. Es wird immer schlimmer mit dieser Welt." Und der Wind, der von ferne kommt,  riecht auf einmal nicht mehr nach Milch und Honig, sondern nach alten Linoleum und kaltem Zigarrenrauch.

Wer aber Vergangenheit und Zukunft vergisst, der hat Scheuklappen auf. Und der wird irgendwann in dreister Ignoranz alles durcheinander werfen: "In Ägypten, da floss noch Milch und Honig." "In der DDR, da konnte man noch seine Meinung sagen." "Und bei Hitler, da herrschte noch Recht und Ordnung." Wie absurd!

Karin Kaschlun: "Da liess der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme." 4. Mose 21,6-7

Pfarrer Nico Szameitat: Wie schrecklich: Gott schickt tödliche Schlangen. Die Israeliten wollen, dass es aufhört, sofort: "Was müssen wir tun? Wir bekennen unsere Schuld. Mach sie weg!" Ich habe meine Probleme mit diesem Gott, der Menschen bestraft, indem er giftige Schlangen schickt. Ich schaue genauer hin. Was steht da eigentlich? Zum Beispiel steht da gar nicht, dass Gott zornig ist. Und auch nicht, dass er die Schlangen schickt. Sondern dass er sie zulässt. Ja, die Schlangen sind schon vorher dagewesen. Eine Wüste ohne Schlangen gibt es nicht. Ein Leben ohne Leid gibt es nicht. Nur war das Leid bislang nicht so bissig, so giftig. Wer aber die Vergangenheit und die Zukunft vergisst, für den wird die Gegenwart zu Gefahr. Jedes Leid, jeder Schicksalsschlag wird dann als persönlicher Angriff empfunden, wird lebensbedrohlich.

Karin Kaschlun: "Und Mose bat für das Volk. Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine Schlange aus Metall und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose aus Metall eine Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die Schlange aus Metall an und blieb leben." 4. Mose 21,8-9

Pfarrer Nico Szameitat: Gott hilft. Aber anders als gedacht. Gott nimmt die Schlangen nicht weg.  Diese Welt ist eben kein Paradies. Schicksalsschläge und Leid gehören zum Leben dazu, so bitter das auch ist. Aber Gott hilft, indem er Mose auffordert, eine Schlange aus Metall zu machen. Und das Tier, das sich windet, das Leid, das man nicht fassen kann, das unsichtbar ist wie so ein merkwürdiger Virus, dieses Leid wird endlich handfest, wird greifbar. Und Mose setzt die Metallschlange hoch oben auf eine Stange. Und das unheimliche Wesen aus dem Wüstenstaub verliert vor dem weiten, blauen Himmel seinen Schrecken. Und die Israeliten? Die müssen aufschauen. Die müssen die Scheuklappen ablegen und den Kopf heben. Und sie sehen das, was schon viele getötet hat. Sie blicken dem Leid und dem Tod ins Angesicht. Aber nur so können sie ja mit ihm leben!

Und sie werden heil.

Lange, lange Zeit später wird der Evangelist Johannes an diese Geschichte erinnern.

"In der Wüste war die Schlange erhöht. Und am Kreuz ist Jesus erhöht. Wer ihn anschaut und an ihn glaubt, der hat das ewige Leben. Der wird heil."

Deshalb schauen wir Christen auf das Kreuz.

Wir heben den Kopf und schauen gemeinsam dem Leid ins Angesicht.

Wir schauen gemeinsam Corona ins Angesicht. Diesem hässlichen Kugelvirus mit seinen komischen Rüsseln. Und wir halten es aus. Lasst uns wachsam und nüchtern sein! Und lasst uns um Gottes Willen aufeinander achtgeben"

Wenn wir Christen also auf das Kreuz schauen, dann werden wir vielleicht nicht gesund, aber wir werden heil.

Nico Szameitat: Deine Narben verschwinden nicht. Und es kann sein, dass ein Schmerz bleibt. Aber der Schmerz vergiftet dich nicht mehr. Du kannst mit ihm leben. Denn du bist nicht allein:

Wir sind da. Und Gott ist da, der allen Schmerz kennt, und ihn verwandeln will.

Linc van Johnson: Das erste Mal in St. Ansgar war ich wegen einer Trauerfeier. Einer meiner Gesangsschüler hatte in einer Kurve die Kontrolle über sein Motorrad verloren und war frontal mit einem LKW zusammengestoßen. Er wurde nur 18 Jahre alt. Ich war während der Trauerfeier genau hier und habe fast die ganze Zeit über das Kreuz nicht aus den Augen gelassen. Und ich habe gedacht: "Es passt!" Denn am Leid ist nichts Schönes. Das Kreuz passt zu diesem grausamen Unfall; zu der Leere und dem Schmerz, den diese sinnlose Tragödie ausgelöst hat. Und dann dachte ich, dass das  Kreuz zu seiner Lieblingsmusik passt: Metal. Dort oben in der Mitte sehe ich ein Mikrofon und auch das passt zu ihm. Adrian hat so gerne gesungen. Genau darin fand ich Trost. Daher ist dieses Kreuz für mich genau richtig!

Pfarrer Nico Szameitat: Ich sehe da oben rechts eine Landschaft an einem Bach. Eines Tages machte es bei mir Klick und ich entdeckte sie: Bäume, die sich im Wasser spiegeln. Ganz sanft. Voller Trost. So verwandelt sich das Kreuz. So verwandelt Gott das Leid. Denn nach dem Tod Jesu kommt die Auferstehung. Für mich in einer Bachlandschaft.

Keine Wüste ohne Schlangen. Kein Leben ohne Leid. Keine Welt mehr ohne Corona. Aber lasst den Kopf nicht hängen.

Schaut auf. Schaut dem Leid ins Angesicht.

Jeder von uns hat eine Vergangenheit. Aber wir haben auch eine Zukunft. Und wir sind nicht allein. Gott ist mit uns. Riecht ihr die Honigmilch? Hört ihr die Bäche plätschern?

Wir werden heil.

Amen.