Alodia Witaszek
© Lena Ohm
Alodia Witaszek spricht regelmäßig als Zeitzeugin in Schulen und Universitäten.
"Ich war ein Geschenk des Führers"
Kinderraub und Zwangsgermanisation im Nationalsozialismus
"Ich habe wirklich die Absicht, germanisches Blut in der ganzen Welt zu holen, zu rauben und zu stehlen, wo ich kann", sagte Heinrich Himmler bereits am 8. November 1938 im Führerheim der SS-Standarte "Deutschland". Und das tat er auch: Schätzungsweise bis zu 200.000 blonde und blauäugige Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren wurden ihren Eltern entrissen, ihrer Wurzeln beraubt und als "Geschenk des Führers" an deutsche Familien gegeben. Eines dieser geraubten Kinder ist Alodia Witaszek und das ist ihre Geschichte.

"Deutschland ist für mich auch ein Stückchen Heimat, mein zweites Zuhause", erzählt Alodia Witaszek lächelnd. Sie komme sehr gern hierher zurück, im vergangenen Jahr sei sie fast jeden Monat einmal aus Polen nach Deutschland gekommen. Die Rückkehr bereite ihr keine Probleme – trotz allem, was sie und ihre Familie erlitten haben. Nur eines sei manchmal schwierig für sie: "Wenn Menschen auf Deutsch normal mit mir reden, habe ich keine Angst. Aber wenn ich auf der Straße Menschen auf Deutsch schreie höre", fährt Alodia Witaszek zögerlich fort, holt tief Luft und gesteht dann etwas leiser, aber dank des Mikrofons in ihrer Hand immer noch gut hörbar, "dann habe ich immer noch Angst." Eine Angst, die tief verwurzelt ist in dem, was sie als kleines Mädchen erlebt hat und was ihr Leben geprägt hat.   

Ein Jahr und acht Monate ist Alodia Witaszek alt, als die deutsche Wehrmacht Polen überfällt und in ihre Heimatstadt Posen einmarschiert. Ihr Vater Franciszek ist Arzt und forscht an der Universität in Posen, ihre Mutter Halina kümmert sich zusammen mit einem Kindermädchen um die fünf Kinder der Familie. Als die deutschen Besatzer die Universitäten schließen, arbeitet Franciszek Witaszek im Lazarett weiter und hilft, wo er nur kann. Er ist gläubiger Katholik und für ihn sind die Zehn Gebote unverhandelbare Richtschnur seines Handelns. Umso schwerer belastet ein Entschluss, den er Anfang 1940 trifft, sein Gewissen: Gemeinsam mit Kollegen von der Universität und einigen guten Freunden gründet er eine Widerstandsgruppe, die "Gruppe Witaszek". Ihr Ziel ist es, die deutschen Besatzer so stark wie möglich in ihrem Tun zu behindern. Dass dabei Menschen – auch Unschuldige – ihr Leben verlieren, nehmen die Widerständler in Kauf.

Familie Witaszek im Herbst 1941. Vorne links Alodia, rechts daneben Iwona und Mariola. Dahinter die mit Krystoph schwangere Halina Witaszek und ihr Mann Franciszek mit Daria auf dem Arm.

Im April 1942 verhaften die Deutschen sämtliche Mitglieder der "Gruppe Witaszek" samt ihren Angehörigen. Darunter auch Halina Witaszek, die von dem Doppelleben ihres Mannes nichts ahnt. Wenige Wochen nach der Verhaftung wird sie wieder freigelassen. Ihr Mann Franciszek wird jedoch noch monatelang von der Gestapo verhört und gefoltert. Am 8. Januar 1934 wird er schließlich zusammen mit den anderen Widerständlern zum Tode verurteilt: Man hängt ihn und schlägt ihm danach den Kopf ab.

Von dem grausamen Schicksal ihres Mannes erfährt Halina Witaszek nichts. Auch nicht, als sie am 15. Januar 1943 verhaftet und nach Fort VII, das Konzentrationslager in Posen, gebracht wird. Zwei Monate später wird sie ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und unter der Nummer 39447 registriert. Einmal im Monat darf Halina ihren Angehörigen einen Brief oder eine Postkarte schreiben und eine erhalten. Nachrichten von zuhause, von ihren fünf Kindern, die sie emotional am Leben erhalten – dass ein Teil davon gelogen ist, weiß sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

Blick auf das Eisenbahntor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau,1945.

Denn nur ihre beiden ältesten Töchter – Mariola und Iwona – sowie ihr jüngster Sohn Krystoph sind tatsächlich bei Verwandten in Sicherheit. Alodia und ihre kleine Schwester Daria sind es nicht. Denn bereits kurz nach Halinas Verhaftung muss ihr Bruder Antoni die beiden Schwestern in der Dienststelle der Gestapo, Abteilung Rasse-Amt, vorstellen, wo sie von SS-Ärzten untersucht und aufgrund ihrer blonden Haare, blauen Augen und ihrer körperlichen Konstitution als Angehörige der nordischen Rasse klassifiziert werden. Im September 1943 – Alodia ist mittlerweile fünfeinhalb Jahre alt – muss Antoni die Kinder erneut zur Gestapo bringen. Doch im Gegensatz zur Untersuchung Anfang des Jahres behält man sie dieses Mal da.

Alodia und Daria im Jahr 1943

Alodia und Daria werden ohne das Wissen ihrer Angehörigen in das Kinder- und Jugend-Verwahrlager Litzmannstadt deportiert. Das "Kinder-Konzentrationslager", das später auch den Namen "Klein Auschwitz" tragen wird, liegt im Zentrum des Litzmannstädter Ghettos und war ursprünglich für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre gedacht. Alodia und Daria kommen in eine Baracke für zwei- bis achtjährige Kinder. Dort sind vor allem die Kinder untergebracht, die die wie die Schwestern auch für die "Eindeutschung" vorgesehen sind. Diesen Kindern wird nicht der Kopf geschoren und sie müssen auch nicht arbeiten, sondern die Lagerschule besuchen, wo Deutsch und Disziplin auf dem Lehrplan stehen.

Damit sind Alodia und Daria grundsätzlich in einer privilegierten Position im Vergleich zu den anderen inhaftierten Kindern, doch das Grauen, das sie trotzdem jeden Tag zu Gesicht bekommen, ist unvorstellbar. Noch ganz genau erinnert sich Alodia Witaszek an die jüdischen Ghetto-Häftlinge, die morgens immer mit einem vollbeladenen Pferdekarren ins Kinder-KZ kamen, um das Brot auszuliefern. "Auf dem Rückweg war der Wagen voll beladen mit den Leichen der Kinder, die im elektrischen Zaun hingen, weil sie die Zustände nicht mehr ertragen und lieber Selbstmord begangen haben, als noch einen Tag länger zu leiden."

Auch an die Nächte im Kinder-Konzentrationslager erinnert sich Alodia Witaszek noch genau. Daran, wie sehr sie unter der dünnen Decke gefroren, wie sie ihre Eltern vermisst und wie sie mit aller Macht versucht hat, nicht zu weinen. Denn weinen war den Kindern streng verboten. Verstießen sie dagegen, gab es Prügel. Die Angst war so groß, dass die kleinen Kinder des Nachts ins Bett machten. "Hat eine Aufseherin das mitbekommen, wurde das Kind ins Freie gezerrt, musste sich auf den Boden legen und wurde mit eiskaltem Wasser übergossen. Danach musste es sich so tropfnass und frierend wie es war, wieder hinlegen", so Witaszek.

Fast jeden Morgen sieht sie tote Kinder auf den Pritschen neben sich liegen. "Niemand hat den Kindern geholfen. Es gab keine Medizin, nichts. Es hat auch niemanden interessiert, wie viele einen Tag oder eine Nacht nicht überlebt haben", erzählt Witaszek. Beim Appell früh morgens hätten sich die Aufseherinnen oft viel Zeit gelassen, die toten Kinder aus der Baracke zu holen. Das sei eine weitere Schikane gewesen, denn während des Appells durften die Kinder sich nicht rühren, durften nicht reden – wenn sie es doch taten, was bei so jungen Kindern nicht unüblich war, wurden sie mit Prügeln oder Essensentzug bestraft. "Wir mussten auf Deutsch durchzählen und manche Kinder aus unserer Baracke waren noch zu klein dafür und konnten es nicht, die wurden dann auch geschlagen."   

Leben im Kinder-KZ

Alodia Witaszek bekommt mit, dass die älteren Kinder zehn bis zwölf Stunden arbeiten müssen – in den Küchen, der Wäscherei, den Werkstätten oder in der Bauabteilung. "Einige Kinder mussten mit viel zu dünnen Nadeln Uniformen flicken und wenn ihnen die Nadel abgebrochen ist, kamen sie zur Strafe in den Karzer", erinnert sie sich. Der Karzer ist ein enger Kellerraum, in dem 20 Zentimeter hoch das Wasser steht. "Die Kinder wurden ohne Essen in dieses Loch gesperrt. Und nach zwei Wochen waren sie schon nicht mehr am Leben." 

Werden außerhalb des Lagers Planierwalzen mit einem Gewicht von drei bis vier Tonnen von Traktoren bewegt, so spannt man im Kinder-Konzentrationslager von Litzmannstadt einfach 30 Kinder davor und treibt sie mit Peitschenhieben an. Am nächsten Tag müssen sie die neue Straße dann wieder entfernen, um am Tag darauf wieder von vorne anzufangen. Die Arbeit hat nur ein Ziel: Die Kinder zu schinden und auszulaugen.

Aus Alodia wird Alice

Nach ungefähr zwei Monaten im Kinder-Konzentrationslager in Litzmannstadt werden Alodia und Daria endgültig als "rassisch wertvoll" eingeschätzt und ins Gau-Kinderheim nach Kalisz verlegt. Unter der Aufsicht von strengen SS-Frauen werden sie in den alten Klostermauern weiter "zwangsgermanisiert": Sie lernen die deutsche Sprache, deutsche Volkslieder und Märchen. Aber es bleibt nicht beim Unterricht. "‘Alodia, du bist jetzt Alice‘ sagte mir eine SS-Frau und verbot mir, meinen alten Namen je wieder zu benutzen", erinnert sich die mittlerweile 82-Jährige. Aus Alodias Schwester Daria wird Dora und die beiden bekommen auch einen neuen, deutschen Nachnamen: Wittke. Die SS-Frauen reden den Mädchen ein, dass sie deutsche Waisenkinder sind, deren Eltern nicht mehr leben und die bald ihre neue Familie im deutschen Reich kennenlernen werden.

Doch das verzögert sich, weil Alodia schwer an Diphterie erkrankt. "Ich war schon ein teures Kind für Deutschland, deshalb mussten sich mich retten", erinnert sie sich. Im Kinder-Konzentrationslager hätte man sie sterben lassen, jetzt jedoch bringt man sie ins Krankenhaus. Mit einem Luftröhrenschnitt wird ihr Leben gerettet. Die Frauen, mit denen Alodia im Saal liegt, sind überrascht darüber, dass das deutsche Kind Alice Wittke, wie es an ihrem Bettchen steht, polnisch spricht. "Als fünfjähriges Kind wusste ich nicht so genau, was die Worte Familie, Deutschland, Polen und so weiter bedeuten", sagt Alodia Witaszek.

Wiedersehen im Krankenhaus

Die Besucherin einer Patientin bekommt die Geschichte von dem deutschen Mädchen mit, das so gut polnisch spricht, und vermutet sofort, dass es sich dabei um eine der beiden geraubten Töchter des Doktor Witaszek handeln könne. Wegen des fremden Namens am Bett ist sie sich jedoch nicht ganz sicher. "Und als Kind habe ich auch nicht gewusst, dass ich nicht Alice bin. Denn die Schwestern hatten mich schon die ganze Zeit gelehrt: ‘Alodia, du bist jetzt Alice‘", erklärt die 82-Jährige die erfolgreiche Gehirnwäsche der SS-Frauen. Trotz ihrer Zweifel fährt die Frau nach Ostrów-Großpolen, um Zygmunt, dem Onkel des Mädchens, von ihrem Verdacht zu berichten. Der macht sich umgehend auf den Weg ins Krankenhaus und erkennt in Alice Wittke tatsächlich seine Nichte Alodia wieder. Er erfährt, dass sie und Doria im Gau-Kinderheim sind und kann sich so zusammenreimen, dass die Töchter seiner Schwester tatsächlich für die Germanisation ausgewählt worden sind.

Nach Alodias Entlassung aus dem Krankenhaus besticht Zygmunt den Gärtner: Er soll die beiden Mädchen mit dem Schmutzwäschewagen aus dem Kinderheim schmuggeln und bekommt dafür Geld und Schmuck. "Doch bevor das passieren konnte, waren wir schon nicht mehr im Gau-Kinderheim", so Alodia Witaszek.

Verwischte Spuren

Die Spuren der Mädchen werden in dieser Zeit besonders gut verwischt. "Niemand soll je erfahren können, dass die Deutschen polnische Kinder geraubt und sie als deutsche Kinder in deutsche Familien gegeben haben", erklärt sie das Vorgehen. Von Januar bis April 1944 lebt Alodia im Lebensbornheim in Bad Polzin (damals Pommern). "Das war ein ganz anderes Haus als die Baracke im Konzentrationslager oder auch das Gaukinderheim. Alles war so hell und sauber und da waren keine strengen SS-Frauen, sondern liebe Krankenschwestern", erinnert sich die 82-Jährige an den ersten Eindruck, den das Lebensbornheim auf sie gemacht hat. "Wir waren abgemagert, als wir da ankamen, und die Krankenschwestern hatten nur ein Ziel: Sie mussten dafür sorgen, dass wir wieder zu hübschen Kindern wurden, weil wir als Geschenke des Führers für SS-Familien vorgesehen waren und deren Kinder mussten schön sein", berichtet Witaszek, die zum damaligen Zeitpunkt sechs Jahre alt ist. Den Kindern wird weiterhin eingeredet, dass sie keine Eltern mehr haben und sich auf eine neue Mutter und einen neuen Vater freuen dürfen. Alodia Witaszek erinnert sich an die Sehnsucht, nicht mehr in so einer großen Gruppe zusammenzuleben, sondern endlich die neue, eigene Familie zu bekommen, von der die Krankenschwestern so liebevoll sprechen.

Am 24. April 1944 lernt Alodia Witaszek ihre "deutsche Mutti", Luise Dahl, kennen. "Meine deutsche Mutti war ganz anders als meine polnische Mama. Sie war ganz klein, ganz dick und hatte ganz dunkle Haare", erinnert sich Witaszek lachend. Ihre deutsche Mutti sei besorgt gewesen, ob sie beide wohl zueinander passen würden, aber "nach ein paar Tagen, an denen wir uns kennengelernt haben, hat sie gesagt, dass wir beide sehr gut zueinander passen." Eine andere Wahl hat Luise Dahl auch nicht: Entweder sie nimmt das Kind, das die SS-Leute für sie auserkoren haben, oder sie bekommt gar keins. Als sie erfährt, dass ihre zukünftige Tochter noch eine kleine Schwester hat, möchte sie auch die gern mitnehmen, damit die Schwestern zusammenbleiben können. Doch das wird von der SS abgelehnt – zu viele deutsche Familien möchten ein Kind adoptieren, da dürfe niemand zwei bekommen. "Die Mutter hat mich wie ein Geschenk von Hitler bekommen. Ich war also ein Geschenk des Führers", sagt Aldoia Witaszek heute.

Alice zusammen mit ihrer "deutschen Mutti", Luise Dahl.

Viel wird Luise Dahl über ihre Tochter nicht gesagt und das, was sie zu hören bekommt, wird sich später fast alles als gelogen herausstellen. "Meiner Mutti wurde gesagt, dass ich ein deutsches Kind bin und dass meine Eltern bei einem Bombenangriff gestorben sind", so Witaszek. Dass das Kind keine Papiere hat und niemand weiß, wo es geboren worden ist, wird mit den Kriegswirren erklärt. Und weil auch niemand sagen kann, welche Konfession Alodia hat oder ob sie gar ungetauft ist, lässt Luise Dahl, die selbst Protestantin ist, ihre Tochter evangelisch taufen. "Und jetzt bin ich zusammen katholisch und evangelisch", so Alodia.

Luise Dahl nimmt ihre neue Tochter mit nach Hause, nach Stendal bei Magdeburg und verwöhnt sie, so sehr das in Kriegszeiten möglich ist. "Als ich dort angekommen bin, habe ich eine neue Familie bekommen. Neben der Mutti waren da auch noch Oma und Opa. Die haben mich sehr geliebt", erzählt Witaszek liebevoll. Alle Familienmitglieder empfangen die Sechsjährige mit offenen Armen.

Alodias erster Schultag.

Im September wird Alodia Witaszek eingeschult – niemand hegt auch nur den geringsten Verdacht, dass es sich bei dem hübschen blonden Mädchen nicht um ein deutsches Kind handeln könnte, so perfekt spricht sie mittlerweile die Sprache und so tief sind die Erinnerungen an ihre polnischen Wurzeln in ihrem Gedächtnis vergraben.

Mit dem Kriegsende kehrt der in Frankreich internierte Wilhelm Dahl nach Stendal zurück – endlich ist die Familie wieder komplett. Und das möchten sie auch amtlich machen: Die Dahls beantragen die Adoption von Alodia, die genehmigt wird. Zusätzlich zu ihrem neuen Nachnamen "Dahl" bekommt sie auch noch einen zweiten Vornamen - "Luise", nach ihrer Mutti.

Ungefähr zur gleichen Zeit kehrt Halina Witaszek in ihre Heimatstadt Posen zurück. Nach fast zwei Jahren in Auschwitz-Birkenau, nach einem Todesmarsch und weiteren Monaten Haft in Ravensbrück muss sie jetzt erfahren, dass ihr Ehemann ermordet und zwei ihrer Töchter von den Deutschen geraubt wurden.

Sie reist zu ihrem Bruder nach Ostrów-Großpolen, kümmert sich um die verbliebenen drei Kinder und schreibt Briefe an Organisationen in aller Welt. Sie schickt ein Foto ihrer beiden Töchter aus dem Jahr 1943 mit und legt dar, was sie weiß: den neuen Namen der Kinder, dass sie im Gau-Kinderheim in Kalisz gewesen und im Germanisierungsprogramm der Deutschen gelandet seien. Doch die Spur der Kinder ist zu gut verwischt, Halina Witaszek bekommt eine Absage nach der nächsten.

Im August 1947 liest sie einen Artikel in einer Fachzeitschrift über die geraubten Kinder und entschließt sich, den Autor des Artikels um Hilfe zu bitten. Dabei handelt es sich um keinen geringeren als Roman Hrabar, der vom polnischen Außenministerium als Beobachter des Prozesses gegen Mitarbeiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS nach Nürnberg entsandt wurde, um Informationen über eben die geraubten und zwangsgermanisierten Kinder zu sammeln. Und tatsächlich findet Roman Hrabar im Archiv in Ludwigsburg Dokumente, die ihn zu den Mädchen führen.

Der Brief, der alles verändert

"Im Oktober bekam meine deutsche Mutti einen Brief mit dem alten Bild von Daria und mir, in dem stand, dass ich ein geraubtes polnisches Kind bin und dass meine Mutter noch lebt", erzählt Alodia Witaszek. Für Luise und Wilhelm Dahl sei in diesem Augenblick eine Welt zusammengebrochen. "Aber meine Mutti hat gesagt: Wenn das stimmt, wenn die richtige Mutter unserer Alice lebt, dann müssen wir sie zurückgeben. Aber wenn das nicht stimmt, dann werde ich alles tun, damit sie bei uns bleiben kann."

Im November fahren Wilhelm und Luise Dahl zusammen mit Alodia nach Berlin. Dort müssen sie sich von dem Mädchen verabschieden, das sie wie ihre eigene Tochter geliebt haben. Für die mittlerweile neunjährige Alodia ist es eine Qual. Sie will in Deutschland bleiben, bei ihrer Familie. Wenn ihre Mutti von der Frau spricht, die ihr das Leben geschenkt hat und zu der sie jetzt zurückkehren soll, kann sie nur nicken, aber verstehen kann sie es nicht. Kann nicht verstehen, warum die Eltern es plötzlich für ein Unrecht halten, dass sie überhaupt zu ihnen gekommen ist.

Die Mutter nicht erkannt

Am Bahnhof bekommt sie ein Schild umgehängt, auf dem "Alodia Witaszek" steht. "Und ich dachte mir: Das bin ich nicht, ich bin Alice Dahl. Ich habe mich auch nicht daran erinnert, dass ich das vor fünf Jahren mal gewesen bin." Gemeinsam mit anderen geraubten Kindern fährt sie mit dem Zug nach Polen. In Posen holt sie eine Krankenschwester vom Bahnhof ab und fährt sie nach Ostrów-Großposen. "Und die Krankenschwester spricht nur polnisch und ich spreche nur deutsch. Wir konnten nicht mal miteinander reden", erinnert sich Witaszek.

Als sie an der Tür ihrer Mutter klopfen, öffnet Alodias kleiner Bruder Krystoph. Der versteht jedoch nicht, was die fremde Frau und das Mädchen wollen, deshalb holt er seine Mutter. Als sie hört, dass eine fremde Frau mit einem fremden Kind vor der Tür steht, lässt sie sofort alles stehen und liegen: "Meine Mutter wusste nicht, dass man mich gefunden hatte. Sie wusste nicht, dass ich auf dem Weg war. Sie hat gar nichts gewusst", erzählt Witaszek. Das erste Wiedersehen mit ihrer Mutter nach so vielen Jahren ist ihr deutlich in Erinnerung geblieben. Sie sei erschrocken gewesen und habe die alte Frau mit den grauen Haaren nicht erkannt. "Und dann wollte die Mama mich umarmen, aber ich wollte das nicht, weil ich die Frau gar nicht kannte."

1947 ist die Familie zu Weihnachten wieder vereint. Vorne Links Krystoph, daneben Daria, Alodia, Iwona und Mariola. Hinten Halina Witaszek.

Da ihre Geschwister nur polnisch sprechen, bleibt Alodia nur die Mutter als Gesprächspartnerin. Bis im Dezember 1947 auch Daria aus Österreich wieder nach Hause kommt. Gemeinsam gehen die Schwestern in eine polnische Schule und bekommen nachmittags noch Polnisch-Unterricht. Am schlimmsten ist der Schulweg für die beiden Mädchen. "‘Hier gehen die deutschen Schweine!‘ haben uns die anderen Kinder hinterhergeschrien. Ja, ich bin Deutsch, habe ich damals gedacht, aber ich bin kein Schwein." Heutzutage weiß Alodia Witaszek, dass ihre Klassenkameraden damals noch zu klein waren, um zu verstehen, was Daria und sie überlebt haben. Aber damals verletzt es sie sehr.

Zehn Jahre lang schreiben sich Alodia und ihre deutsche Mutti regelmäßig Briefe. Luise Dahl geht es in der DDR wirtschaftlich besser als der Witwe und fünffachen Mutter Halina Witaszek in Polen und deshalb schickt Luise Dahl Päckchen mit Klamotten und allerlei anderen Dingen, die Familie Witaszek dringend braucht. Darunter auch Medizin für Halina, die die Frau in Polen weder bekommen noch hätte bezahlen können.

Zwei Mütter

Halina Witaszek ist froh über die Hilfe und mit der Zeit steckt sie zu den Briefen ihrer Tochter auch eigene Briefe an die fremde Frau. Sie fragt sich, was das da wohl für Menschen im einst verfeindeten Deutschland sind, die sich so rührend um ihre Tochter gekümmert haben, als sie es selbst nicht konnte. "Und mit der Zeit sind meine polnische Mama und meine deutsche Mutti beste Freundinnen geworden", sagt Alodia Witaszek glücklich. Dass das alles andere als selbstverständlich ist, weiß sie. Denn während sie ihr Leben lang engen Kontakt zu ihrer deutschen Familie halten konnte, bekam ihre Schwester Daria auf keinen ihrer Briefe jemals eine Antwort.

Luise Dahl (links) und Halina Witaszek (rechts) im Jahr 1969 bei Luise Dahls Besuch in Posen.

1969 ist es dann endlich soweit: Luise Dahl besucht Alodia und Halina in Posen. Endlich möchte sie die Heimat ihrer Tochter sehen, möchte ihre Brieffreundin und deren Kinder kennenlernen. Alodia freut sich auf den Besuch, hat aber auch Angst, dass die beiden Frauen plötzlich zu Konkurrentinnen werden könnten. Doch schon bald erkennt sie, dass diese Angst vollkommen unbegründet ist und sich die beiden Frauen blendend verstehen und wirkliche Freundinnen geworden sind. Und auch aufgrund der guten Beziehung zwischen ihrer deutschen Mutti und ihrer polnischen Mama kann Alodia Witaszek heute offen und ehrlich sagen: "Ich hatte zwei Mütter."

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Anmerkungen zur Zeitleiste: Nicht alle biografischen Daten in der Zeitleiste konnten auf den Tag genau rekonstruiert werden. Aufgrund technischer Vorgaben musste jedoch ein genaues Datum statt nur eines Monats gewählt werden.

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