Weltweit beobachten Sozialwissenschaftler den Aufstieg rechtspopulistischer Identitätspolitiken, gepaart mit einem vermeintlich christlichen Menschenbild. Dabei wird die "Christlichkeit" einem ganzen Volk und Land als kollektive Identität zugeschrieben. Gute Deutsche und gute Christen wissen eben, was man darf und was verboten ist, wie man sich benimmt oder wer ins Land soll. Für das Christentum ist diese Form der Identitätspolitik eine Versuchung. Nicht wenige Gemeindechristen wählen die Neuen Rechten, auch wenn Bischöfe sich immer wieder gegen die AfD und andere völkisch-nationale Ausprägungen öffentlich aussprechen. In der katholischen Akademie Berlin wurde jetzt über diese identitäre Versuchung des Christentums debattiert.
Der bayrische Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter, langjähriger Leiter der Akademie für politische Bildung Tutzing, sieht die Gefahren der Renaissance einer deutschen Identitätspolitik: "Wir sind das Volk. Wir haben die Wahrheit. Jeden Widerspruch gegen diese unsere Wahrheit gilt es mit dem Schwerte der unzweideutigen politischen Werte-Entscheidung zu zerhauen. Damit ist der Parlamentarismus am Ende. Damit ist die Demokratie am Ende. Damit ist der Pluralismus am Ende."
Es werde die Allwirkmächtigkeit eines vermeintlichen Kollektivs heraufbeschworen. Die Verfassung der Bundesrepublik sagt zwar, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, sie geht jedoch gerade nicht von einem einheitlichen Volkswillen aus. Das sei letztlich gegen die bundesrepublikanische Verfassung gerichtet, so Oberreuter weiter: "Wir sollten uns überlegen, was bei vielen Identitätspolitikern passiert, die die Menschenwürde der Migranten nicht akzeptieren und sie nur Deutschen in der irrtümlichen Auslegung des Grundgesetzes zusprechen. Die wandern nämlich eigentlich aus dem Grundgesetz aus."
Denn die Würde des Menschen ist laut Grundgesetz unantastbar. Das gilt für alle, und nicht nur für Deutsche. So sieht das auch der grüne Politiker Volker Beck. Er ist zur Zeit Lehrbeauftragter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien CERES in Bochum. Die Pluralität sei im Grundgesetz garantiert. "Unsere Verfassung weiß, dass die Menschen verschieden sind und verspricht ihnen in dieser Verschiedenheit die Gleichheit. Alles darf verschieden sein und trotzdem sollen die Menschen die gleichen Rechte, die gleichen Möglichkeiten, die gleiche soziale Sicherheit genießen wie alle anderen Bürger auch", sagt Beck. Wer das nicht wolle, der wolle letztlich keine Demokratie. Auch wenn das die AfD so offen nie sagen würde.
Christentum als reine Fassade
"Identitäre Politik versucht das wegzufegen, indem sie sagt, es gibt eine Identität, das ist die richtige Identität. Zu der muss man dazugehören und mit der hat man einen Anspruch auf ein Mehr. Auf ein Mehr auf sozialen Status, Mehr an Wahrheit, Mehr an sozialer Sicherheit. Das ist eine geistig-soziale Grundströmung auch im religiösen Zusammenhang", so Beck weiter.
Denn die Neue Rechte wird von Anfang an auch von erzkatholischen bis streng evangelikalen Kreisen unterstützt und getragen. Die christliche Religion werde da jedoch, so Volker Beck, nicht ernst genommen, sondern verkomme zur reinen Fassade und zum Ornament. Eben um eine scheinbar gemeinsame Identität herzustellen, weil man nicht so genau wisse, wer man sei.
Pseudo-christliche Selbstvergewisserung
"Wenn Pegida in Dresden in der Adventszeit Weihnachtslieder singt. Da ist im Namen des Christentums etwas unterwegs, was das Christentum für eine Mischung aus Ostereier, Weihnachtsbaum und Christstollen hält. Aber was relativ wenig weiß über die biblischen Geschichten und über die Theologie des Christentums", sagt Volker Beck.
Letztlich gehe es bei dieser pseudo-christlichen Selbstvergewisserung um eine Abgrenzung gegenüber anderen, gegen Muslime und Migranten.
Christliche Identität als Fragment
Für solche Identitären bedeutet christliche Nächstenliebe meist, dass sie zuerst nur der eigenen Familie und den Deutschen gilt, nicht aber Flüchtlingen und Migranten. Dass Bischöfe, Superintendenten und Pfarrer seit Jahren dagegen halten, wird verhöhnt und dient den neurechten Christen meist als Beweis, wie weit sich die Kirchen bereits vom Volk entfernt haben. Dabei kann es theologisch betrachtet gar nicht die eine christliche Identität geben. Jeder Christ hat eine letztlich gebrochene, in Teilen zusammengesetzte Persönlichkeit. Das habe der evangelische Pastoraltheologe Henning Luther gut ausgedrückt, sagt die Dogmatikerin Gunda Werner von der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Graz. Identitäten sind nie eindeutig und abgeschlossen, sondern immer auch im Wandel begriffen. Letztlich sei auch Jesus von Nazareth, der den Christen zum Auferstandenen wurde, immer in der Selbstbefragung gewesen, wer er denn sei und was die Leute sagten, wer er sei.
"Fragmente sind etwas, die auf Vergangenheit hinweisen. Fragmente sind aber auch Fragmente der Gegenwart. Dinge, die einfach nicht zu Ende gebaut worden sind. Fragmente sind aber auch Dinge, die auf die Zukunft hinweisen. Vielleicht wird es ja noch vollendet. Christliche Identität kann nur als Fragment gedacht werden. Alles andere wäre nicht christlich, denn man kann sich dann nicht mehr auf Christus berufen, wenn man eine vollendete, abgeschlossene, ganze, heile Identität haben möchte", bezieht sich Gunda Werner auf den evangelischen Theologen Henning Luther.
Verneinung der Wirklichkeit
Die identitäre Versuchung des Christentums sei hingegen eine Art sektenhafte Schwarz-Weiß-Malerei und Verneinung der Wirklichkeit. In der Vereinfachung mit klaren Identitätsmarkern liege die Attraktivität.
"Dazu gehört die Papsttreue, die marianische Ausrichtung, die eucharistische Ausrichtung, die Konzentration auf die Sünde, die Sündenvergebung in der spezifisch sakramentalen Form, eine binnenstrukturierte Identität, wie man sie auch unter Evangelikalen kennt. Eine sehr klare und eindeutige Ansage, wie denn das Leben funktioniert. Dass man bestimmte Dinge meidet, Sex vor der Ehe, Homosexualität, und sich nach sehr klaren Geboten und Verboten richtet, die keinerlei Buntes zulassen", sagt Gunda Werner weiter.
Es gehe bei den identitären Christen weniger um eine reflektierte Theologie. Vielmehr stehe das christliche Wir, das kollektive Erlebnis im Mittelpunkt. So würden hoch emotionale Strukturen etwa über Lobpreislieder angeboten. Auch das sei eine Form der Vereinfachung und Technik für ein alles verbindendes Kollektiverlebnis.
Diese Vereinfachung bestehe oftmals auch in eine Aufteilung von: Wir Christen hier, die Muslime möglichst weit draußen da, ergänzt Volker Beck. Vielleicht sogar noch gepaart mit einer gewissen Angst, dass die vermeintlich streng gläubigen Muslime das mittlerweile seichte und glaubensschwache Europa übermannen könnten. Das aber sei Quatsch. Auch bei Migranten gebe es keine geschlossene homogene Identität. Jede christliche Überheblichkeit verhindere ein realistisches Bild. Bei identitären Christen klingt das dann so, und davor will Volker Beck warnen: "Die sind muslimisch, die sind traditionell gläubig, wir sind aufgeklärt, auf jeden Fall sind wir denen zivilisatorisch um mehr als Nasenlängen voraus. Und diese wir-und-die-Zuschreibungen produzieren identitätspolitische Prozesse, die wir eigentlich nicht wollen. Weil die unsere Gesellschaften auseinander treiben."