Portraitfoto der Holocaust-Überlebenden Zdzis?awa W?odarczyk
© Christina Stohn
Zdzis?awa W?odarczyk will durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichte junge Menschen aufrütteln.
"Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht"
Mit sechs Jahren sieht die Polin Zdzis?awa W?odarczyk beim Einmarsch der Wehrmacht in Warschau zum ersten Mal in ihrem Leben eine Leiche, mit elf Jahren muss sie sich im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau an den Anblick gewöhnen. Sie kämpft um ihr Überleben – und um das ihres kleinen Bruders. Die seelischen Narben, die sie davonträgt, prägen ihr Leben.

"Es gibt Erinnerungen, da möchte ich schreien. Da höre ich die Stimmen der Umgekommenen", sagt Zdzis?awa W?odarczyk und blickt von dem Taschentuch auf, dass sie die ganze Zeit zusammen und wieder auseinander gefaltet hat. "Wenn ich davon erzähle, sehe ich alles wieder vor meinen Augen. Ich erlebe den Krieg noch einmal." Die Stimme der 86-Jährigen bebt, das Taschentuch hält sie jetzt noch fester umklammert. "Ich muss mich an etwas festhalten, sonst kann ich nicht darüber sprechen", sagt sie. "Darüber" – das ist Zdzis?awa W?odarczyks Kindheit.

Kurz nach ihrem 6. Geburtstag verändert sich für die kleinen Zdzis?awa alles: Anfang September 1939 überfällt die deutsche Wehrmacht Polen und rückt auf die polnische Hauptstadt Warschau zu. 1.200 Maschinen der deutschen Luftwaffe bombardieren die Stadt, auf schwer zu treffende Ziele werden Brandbomben abgeworfen. Ein Anblick, der sich auf ewig in Zdzis?awa W?odarczyks Gedächtnis eingebrannt hat: "Ich sehe die Flugzeuge immer noch vor mir, wie sie im Tiefflug über die Stadt fliegen und Bomben abwerfen." Wenig später beginnt auch die deutsche Artillerie, das bereits brennende Warschau zu beschießen. Zdzis?awa W?odarczyks Familie entschließt sich zur Flucht aus der Stadt. Dabei können die Eltern ihre drei Kinder nicht vor dem Anblick bewahren, der sich ihnen auf dem Weg durch die Stadt bietet. "Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben tote Menschen auf dem Boden liegen sehen", erinnert sich die 86-Jährige.

Zdzis?awa W?odarczyk als Kleinkind vor einer Kirche.

Zdzis?awas Vater hat Mühe, die Pferde, die den Karren der Familie ziehen, unter Kontrolle zu behalten, denn rechts und links von ihnen detonieren die Bomben und der Boden und die Bäume beben unter den Erschütterungen. "Ich habe die ganze Zeit geschrien und mit den Armen und Beinen gefuchtelt, weil ich so große Angst hatte", sagt W?odarczyk und anhand ihrer Stimmlage merkt man, dass sie gedanklich wieder dort ist. Sie erzählt, dass sie sich von der schrecklichen Angst damals total übermannt gefühlt habe. Und die Ereignisse haben Spuren hinterlassen: "Jeder Ton, jedes laute Geräusch war furchtbar für mich und das ist heute teilweise immer noch."

Die Flucht Richtung Osten führt die Familie bis nach Kowel in Wolhynien (heute in der Ukraine). Da die Sowjetunion jedoch bereits Ostpolen besetzt hat, kehrt die Familie gegen Ende Oktober 1939 nach Warschau zurück. Für die sechsjährige Zdzis?awas ist der Anblick ihrer in Trümmern liegenden Heimatstadt schwer zu ertragen. Der Anblick der ausgebrannten oder zerbombten Gebäude erinnert sie an kranke oder tote Menschen mit großen, klaffenden Augen.

Eine Luftaufnahme der beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht schwer bombardierten Stadt Warschau 1939.

Die Familie hat Glück und kann in ihr Haus zurück. Doch der Warschauer Bevölkerung fehlt es im Kriegsalltag an allem: Es gibt keinen Strom, kein fließendes Wasser und auch keine Steinkohle, um zu heizen. Der eiskalte Winter zwingt viele Menschen dazu, Bücher zu verbrennen, um überhaupt ein kleines Feuer machen zu können.

Zdzis?awa W?odarczyk mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren beiden jüngeren Geschwistern.

Dank seiner Deutschkenntnisse erhält Zdzis?awas Vater seinen Posten als Postbeamter zurück. So erfährt er auch davon, dass die Nationalsozialisten ein Konzentrationslager mit dem Namen "Auschwitz" gegründet haben, in dem sie Angehörige der polnischen Elite inhaftieren. "Mein Vater hat versucht, so viel es ging zu helfen", berichtet W?odarczyk, "zum Beispiel, indem er geholfen hat, Briefe nach Auschwitz zu verschicken oder Briefe zu übersetzen, die die Familien zu ihm gebracht haben und die sie nicht verstanden haben." Wahrscheinlich war Zdzis?awa W?odarczyks Vater auch im polnischen Widerstand aktiv, zumindest versteckte er verbotene Flugblätter in der Wohnung, doch das hielt man vor den Kindern geheim, damit sie es nicht versehentlich verraten konnten.

Doch die Kinder in Warschau bekommen viel mehr von den Inhaftierungen und Hinrichtungen mit, als sich ihre Eltern vorstellen können. "Wir haben auch auf unsere kindliche Art und Weise versucht, diese Dinge, die wir gesehen haben, zu verarbeiten und sind zum Beispiel an die Stellen gegangen, an denen Hinrichtungen stattgefunden haben, um dort Blumen niederzulegen", erinnert sich Zdzis?awa W?odarczyk.

Zdzis?awa W?odarczyk in ihrem Kommunionskleid.

Den Beginn des Warschauer Aufstands Anfang August 1944 erlebt Zdzis?awa W?odarczyk zusammen mit ihrem kleinen Bruder in einem kleinen Laden, der auf der gegenüberliegenden Seite eines deutschen Armeestützpunktes liegt. "Der Ladenbesitzer hat uns kleine Kinder angesehen und gesagt: ‘Was soll ich denn jetzt mit euch machen?!‘", so die 86-Jährige. Zu dem Zeitpunkt sei es schon nicht mehr sicher gewesen, die Straßen zu betreten und so hätten die Kinder im Laden festgesessen. Erst in der Dämmerung wagen sich Zdzis?awa und ihr Bruder auf den Heimweg: Sie benutzen als heimlichen Fluchtweg die Löcher zwischen Häusern und in Kellern, die die Warschauer Bevölkerung für eine solche Situation vorbereitet hatte.

Es ist bereits nach neun Uhr abends, als die Kinder endlich in Sichtweite ihres Zuhauses sind. Nur noch ein kleines Stück müssen sie schaffen, als sie auf zwei deutsche Soldaten treffen. Die Männer halten die Kinder an, wollen wissen, warum zwei so kleine Kinder so spät allein in der Stadt unterwegs seien. Die zehnjährige Zdzis?awa W?odarczyk hat Angst. Doch die stellt sich ausnahmsweise als unbegründet heraus. "Es waren ordentliche, menschliche Soldaten, weil sie das verschlossene Tor für uns geöffnet und uns reingelassen haben, so dass wir zu unserem Haus gehen konnten", erzählt sie. Vor Freude, ihre Kinder wohlbehalten zurückzuhaben, sei ihre Mutter in Ohnmacht gefallen.

Massaker an der Zivilbevölkerung

Die Freude über die wohlbehaltene Rückkehr der Kinder währt jedoch nicht lange. Denn während der Niederschlagung des Aufstandes verüben vor allem SS- und Polizeieinheiten zahllose Massaker: In den Warschauer Stadtteilen Wola und Ochota werden allein zwischen dem 1. und 5. August bis zu 50.000 Zivilisten ermordet. Zdzis?awa W?odarczyks Familie lebt im zweiten Bezirk von Warschau, was sie zwar vor den Mordaktionen bewahrt, jedoch nicht vor der Deportation. "Es war der 8. oder 9. August, als sie brüllend und mit Gewehren in der Hand in unser Haus kamen", erinnert sich die 86-Jährige. Die Soldaten hätten sie aus dem Haus auf die Straße getrieben. Ein älterer Mann, der nicht mehr laufen konnte, sei von anderen Hausbewohnern auf einem Stuhl vor die Tür getragen worden. "Und dort wartete ein Soldat auf ihn, der ihm eine Waffe ins Genick gehalten und ihn vor unseren Augen erschossen hat."

Zdzis?awa W?odarczyk als junges Mädchen.

Die ängstlichen und eingeschüchterten Menschen werden von den Soldaten zu einer Sammelstelle getrieben. Zdzis?awa W?odarczyk erinnert sich noch heute vor allem an die Unruhe, die dort geherrscht habe – und an die Schreie der Frauen. Aus allen Richtungen seien die Schreie gekommen und das zehnjährige Mädchen habe sich nicht erklären können, warum die Frauen so herzzerreißend und verzweifelt schrien. Noch unerklärlicher erscheint dem Mädchen nur noch das Verhalten ihres Vaters: Die Mutter weist er an, sich auf den Boden zu legen, dann breitet er eine Decke über sie und befiehlt den Kindern, sich still auf die Mutter draufzusetzen. So, als sei sie ein Gepäckstück. "Irgendwann sehr viel später habe ich realisiert, dass er meine Mutter beschützen wollte, weil die Frauen dort am Fließband vergewaltigt wurden."

Von der Sammelstelle aus kommt die Familie in das Durchgangslager 121 (Dulag 121) in Pruszków. Weil Zdzis?awas kleine Schwester zu dem Zeitpunkt gerade im Krankenhaus liegt, entgeht sie als einzige aus der Familie der Deportation. Alle anderen werden in Pruszków sofort in Waggons gepfercht, damit sich der Transport umgehend in Bewegung setzen kann – in Richtung Krakau. "Zwei Tage ungefähr waren wir unterwegs. Es gab keine Toilette, sondern einzig und allein einen kleinen Eimer, um sich erleichtern zu können", beschreibt W?odarczyk. Irgendwann sei es den Männern gelungen, ein Loch in den Boden des Wagons zu schlagen, durch das die Fäkalien entsorgt werden konnten.

Blick auf das Eisenbahntor des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau,1945.

Als der Zug schließlich den Torbogen ins Lager Auschwitz-Birkenau passiert, verliert Zdzis?awas Vater vollkommen die Fassung: "Er hat angefangen, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen und zu schreien: "Mein Gott, mein Gott, wo haben sie uns denn nur hingebracht, wo haben sie uns hingebracht?!" Weil er von allen Beteiligten wohl am besten einschätzen konnte, um was für einen Ort es sich hier handelte."

Zdzis?awa W?odarczyk erinnert sich noch heute an das Geschrei und das Hundegebell, an die SS-Männer mit ihren Gewehren und derben Stiefeln, an das "schneller, schneller" mit dem sie aus dem Waggon getrieben wurde. Bereits an der Rampe werden die Männer von den Frauen und Kindern getrennt. Der Weg zur "Sauna" führt das Mädchen vorbei an hohen Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen.

Entlang der Stachdeldrahtzäune wurde Zdzis?awa W?odarczyk zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder ins Lager geführt.

In einer mit Sand ausgestreuten, aber ansonsten leeren Holzbaracke müssen die Frauen und Kinder aus Zdzis?awas Transport zusammengekauert ausharren. Kurze Zeit später stoßen die Männer wieder zu ihnen, die Familie findet sich in der Menge und verbringt einige Stunden zusammen, bevor die Männer am nächsten Morgen von SS-Leuten abgeführt werden. "Ich wollte meinen Vater aber nicht gehen lassen. Ich habe gesagt, er soll bei mir bleiben. So als hätte ich schon vermutet, dass ich ihn nie wieder sehen werde", erzählt Zdzis?awa W?odarczyk.

Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder harrt sie weiter in der Baracke aus, bis auch sie schließlich zum Bad geführt werden. Auf dem Weg dorthin beobachtet das Mädchen, wie sich eine Frau mit einem Kind auf dem Arm einem SS-Mann nähert und ihn anspricht. "Die Frau fragte den Offizier, ob er für die Zeit, die sie im Bad beschäftigt sein würde, ihr Kind nehmen könnte", schildert Zdzis?awa die Situation und schließt kurz die Augen, bevor sie weiterspricht, "Der SS-Mann hat seine Pistole genommen, sie ihr auf die Stirn gesetzt und sie erschossen."

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Verängstigt und verschüchtert zieht sich Zdzis?awa im Bad aus. In diesem Augenblick sieht sie ihre Mutter zum ersten Mal nackt – ein beschämender Moment für sie. Mit welcher sadistischen Grausamkeit die SS-Männer das Lager regieren, erfährt das Mädchen nur wenig später. Ganz in ihrer Nähe habe ein wunderschönes Mädchen mit langen Zöpfen gekniet, an deren Oberschenkel Blut herabgeronnen sei. Zu diesem Zeitpunkt habe sie noch nichts davon gewusst, dass Frauen ihre Periode bekommen und dann bluten. Sie habe sich Sorgen gemacht, ob das Nädchen verletzt sei. Viel Später habe sie dann begriffen, dass es sich geschämt haben musste und versucht hatte, so viel wie möglich von sich zu verbergen. "Ein Soldat hat sie gesehen, hat die Rückseite seiner Peitsche genommen, sie ihr unters Kinn gehalten und ihr befohlen, mehr von sich zu zeigen", erinnert sich Zdzis?awa W?odarczyk. Das Mädchen sei aufgestanden und habe auf Befehl des SS-Manns ihre langen Haare auf den Rücken gelegt. "Und dann hat er sie von oben bis unten gemustert", sagt die 86-jährige, atmetet tief ein und schluckt zwei, drei Mal, "es war so erniedrigend."

Diese Erinnerung hat sich tief in Zdzis?awa W?odarczyks Gedächtnis eingebrannt. Seitdem meidet sie Strände und Schwimmbäder, weil der Anblick nackter Frauenkörper all diese Erinnerungen wieder hochkommen lässt. Dann werde ihr ganz schwindelig, unwohl und schlecht. Und noch heute frage sie sich, wie die Verantwortlichen im Lager all diese schrecklichen Dinge tun konnten. "Die hatten doch auch Familien, waren Väter. Deren Kinder hatten Spielsachen und wir im Lager hatten nichts", so Zdzis?awa. Bis heute scheitert sie am Versuch, das zu verstehen.

Zdzis?awa W?odarczyk bekommt die Nummer 85282 und einen roten Winkel, der das Mädchen als "politischen Häftling" ausweist. "Ab dem Moment hatten wir keinen Namen mehr und durften auch nicht mehr mit Namen angesprochen werden", erzählt sie. Von den Müttern getrennt, werden die Kinder in eine eigene Baracke geführt. Die Baracke ist in Stuben aufgeteilt und Zdzis?awa wird dort von ihrem kleinen Bruder getrennt. Sie erinnert sich noch an das schreckliche Weinen der Kinder, die ihre Mütter und Väter vermissten. "Als die Mütter mal zu ihren Kindern wollten, wurden sie von den Deutschen mit Scheiße bespritzt", erzählt sie.

Die hygienischen Bedingungen in den Baracken sind katastrophal: Es gibt kein Bad, sondern nur Töpfe, die für die an Durchfall erkrankten Kinder gar nicht schnell genug geleert werden können. Und auf den Pritschen liegen dicht gedrängt fünf bis sechs Kinder, die sich eine kleine Decke teilen müssen. "Wir liefen durch den Schlamm und es gab kein Trinkwasser. Dazu Ratten und Ungeziefer, Flöhe und alles Mögliche, viele von uns waren krank und hatten Durchfall."

Heute sagt Zdzis?awa W?odarczyk rückblickend, dass sie sich wahrscheinlich umgebracht hätte, wenn sie älter gewesen wäre. Als Kind habe sie sich auf den Moment konzentriert, auf ihr Überleben. Und auf das ihres kleinen Bruders. Weil er zu den Jüngeren in seiner Stube gehört, werden ihm regelmäßig das Essen und die Schuhe weggenommen. In Auschwitz kommt das einem Todesurteil gleich. Deswegen reagiert Zdzis?awa und holt ihn zu sich, damit er bei ihr bleiben kann. "Natürlich habe ich dafür eine entsprechende Strafe bekommen, aber letztendlich war es so, dass er dann neben mir schlief", so W?odarczyk.

Auf einer ähnlichen Koje in der Kinderbaracke im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau hat Zdzis?awa W?odarczyk zusammen mit vier oder fünf anderen kindern schlafen müssen.

Bestraft wurden die Kinder schon wegen der kleinsten "Vergehen" – wenn die Decke nicht korrekt gefaltet war oder wenn Kinder zu spät zum Appell erschienen oder nicht stillstanden, zum Beispiel. Das unerbittliche Appellstehen morgens und abends ist Zdzis?awa W?odarczyk ebenfalls in Erinerung geblieben. "Zu jedem Appell wurden die Leichen der Gestorbenen aufgestapelt, auch die der Kinder", erinnert sie sich. Und dann seien die Leichen weggeschafft worden: Von den Männern habe einer die Arme, der andere die Beine genommen und die Leiche wie eine Puppe auf den Wagen geschmissen.

Schnell haben auch die Kinder die Vernichtungsmaschinerie der Todesfabrik Auschwitz-Birkenau durchschaut: "Wir sahen, wie neue Transporte ankamen und die einen nach der Selektion mit ihrem Gepäck in Richtung Lager liefen und die anderen ohne. Wir wussten, dass die ohne Gepäck direkt in die Gaskammern gingen", erzählt W?odarczyk. "Wir konnten den Rauch riechen und wir versuchten, leise zu beten." Bis heute erträgt sie den Anblick rauchender Schornsteine kaum, weil sie vor ihrem inneren Auge immer die Krematorien sieht, in denen die Menschen verbrannt wurden.

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Im Lager gibt es jedoch auch gute Menschen, nicht alles ist immer schwarz-weiß für Zdzis?awa W?odarczyk. So retten ihr zum Beispiel zwei Nonnen das Leben, als sie an Durchfall erkrankt: Sie teilen ihre kleine Essensration mit ihr und eine verkohlt das Brot, sodass der Durchfall des jungen Mädchens gestoppt wird und Fieber ausbricht, das die Giftstoffe aus ihrem Körper treibt. Und dann ist da noch Maria, eine der Aufseherinnen in Zdzis?awas Baracke: "Sie war sehr gut zu uns. Bevor wir schlafen gegangen sind, da hat sie uns erzählt, dass wir von der Befreiung und unseren Familien träumen sollen. Das hat sie uns jeden Abend sehr gewünscht." Diese guten, aufmunternden Worte seien für die Kinder wertvolle kleine Schätze gewesen – genauso wie das Stückchen Zucker, das ihr Maria einmal gegeben habe. "Sie war nicht sehr lange bei uns. Sie wurde dann verlegt und wir haben sie nie wieder gesehen. Jemand, der gut war, wurde bestraft. So war das im Lager", sagt W?odarczyk.

Mitte Januar 1945 muss sich Zdzis?awa mit allen anderen Häftlingen in eine lange Kolonne einreihen. Die KZ-Häftlinge sollen auf einem Todesmarsch aus dem Lager getrieben werden. Beim Kontrollgang entscheidet das Wachpersonal, dass Zdzis?awas Bruder zu schwach für den Marsch ist und zurückbleiben muss. Die Elfjährige bekommt es mit, rennt zu ihrem Bruder und wirft sich neben ihn auf den Boden. "Ich wusste, dass meine Mutter weiter vorne in der Frauengruppe steht und ich dachte, wenn ich schreie, dann hört sie mich und bekommt mit, dass mein Bruder zurückbleiben soll", erinnert sich die 86-Jährige. Da die Gruppe ihrer Mutter jedoch bereits losmarschiert ist, hört die Mutter nicht, dass ihre Kinder zurückbleiben. Stattdessen glaubt sie, ihre Kinder seien bereits gestorben und deswegen nicht mit ihr auf dem Todesmarsch.

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Im verlassenen Konzentrationslager kämpfen die zurückgebliebenen Kinder um ihr Überleben. "Dadurch, dass das Lager komplett verlassen war, gab es dort auch nichts mehr zu essen, so dass wir gucken mussten, wie wir überhaupt an Essen rankommen konnten. Es war sehr wenig", sagt W?odarczyk. Die Soldaten der Roten Armee, die das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 befreien, sind vollkommen überrascht, dort so viele halbverhungerte Kinder vorzufinden. Die Geschwister werden in ein Waisenhaus des Roten Kreuz gebracht und sofort fragt Zdzis?awa, ob die Menschen etwas über den Verbleib ihrer kleinen Schwester herausfinden könnten. "Durch eine Reihe von glücklichen Zufällen war es so, dass meine Schwester tatsächlich überlebt und bei Verwandten den Krieg überstanden hatte. Wir hatten wahnsinnig großes Glück, dass wir wieder zueinander gefunden haben."

Die Großmutter mütterlicherseits kümmert sich um die drei Enkel, bis Zdzis?awas Mutter aus dem Konzentrationslager Ravensbrück zurückkehrt. Gesundheitlich und psychisch ist sie schwer angeschlagen und kann sich nicht um ihre Familie kümmern. "Wir hatten keine eigene Wohnung, wir hatten nichts zum Anziehen, wir waren auf die anderen angewiesen, dass sie uns helfen. Die Familie meiner Mutter hat sich um uns gekümmert", erinnert sich Zdzis?awa. Damals habe sie eine Sehnsucht nach einer ganz normalen Familie gespürt: Sie beobachtet Kinder, die Mutter und Vater umarmen können und wird sich schmerzhaft darüber klar, was ihr fehlt. "Ich habe mich immer schlechter gefühlt als die anderen Kinder. Als hätte ich gar keinen Wert als Mensch", gesteht Zdzis?awa. "Wenn ich in der Kirche war, dann stand ich ganz hinten in der Ecke. Ich fühlte mich einfach schlechter als die anderen Menschen. Und das hat Einfluss genommen auf mein Leben." Dazu gehört auch, dass sie ihr Leben lang Probleme gehabt habe, anderen Menschen zu vertrauen. Sie habe die Menschen immer beobachtet, immer darauf gewartet, dass etwas Schlimmes passiere. "Nach allem, was ich in Auschwitz gesehen und erlebt hatte, hatte ich Angst, wieder jemandem zu vertrauen."

All ihre Hoffnungen ruhen auf der Rückkehr des Vaters. Doch die bleibt aus. Nach einem Jahr erhält die Familie die Nachricht, dass er im KZ Flossenbürg ums Leben gekommen ist. Für Zdzis?awa bedeutet das, dass sie die Verantwortung für ihre Familie trägt. Für das Spielen mit anderen Kindern, für Unbeschwertheit und Freude sind keine Zeit. Sie pflegt ihre Mutter bis zu ihrem frühen Tod Ende der 40er Jahre und ersetzt den kleinen Geschwistern die Eltern. Eine schwere Bürde. "Es hat mich sehr belastet, dass ich meiner Mutter keine guten Wohn- und Lebensumstände schaffen konnte", sagt die 86-Jährige.

Sie habe sofort erwachsen werden müssen. Statt ihrer Mutter sei sie zum Elternabend gegangen und habe den Lehrern erklärt, weshalb ihr kleiner Bruder nicht still auf einem Stuhl sitzen könne, sondern nur auf der Erde mit Steinen spiele. Über die Zeit im Konzentrationslager habe sie mit niemandem reden können – nicht mit ihrer Mutter und auch mit niemandem sonst. Denn es habe ihr niemand geglaubt, dass sie als Kind dort inhaftiert worden sei. "Und nach dem Krieg wollten sie davon auch nichts hören", so W?odarczyk.  

Fürsorge für die Geschwister

Mit 15 Jahren, nach dem Ende der Grundschule, muss sie anfangen zu arbeiten, um die Familie zu ernähren. Den Traum vom Abitur erfüllt sie sich erst später auf der Abendschule. Zdzis?awa heiratet, doch ihr sind nur zehn Jahre mit ihrem Mann vergönnt: Er stirbt bei einem Autounfall.

Zdzis?awa W?odarczyk bei einem Vortrag vor Studierenden in Freiburg.

Ein Leben lang kümmert sie sich um ihre beiden Geschwister. Als sie 2019 kurz hintereinander versterben, nimmt das Zdzis?awa sehr mit. Und obwohl sie selbst sagt, dass sie sich "psychisch angegriffen fühle", reist sie nach Deutschland, um über ihre Geschichte Zeugnis abzulegen. "Damit solche Leute wie früher nie wieder an die Macht kommen. Ich habe das überlebt, ich weiß, wie das endet", warnt sie. Noch einmal dürfe man es nicht geschehen lassen.

Das Maximilian-Kolbe-Werk unterstützt ehemalige Häftlinge nationalsozialistischer Konzentrationslager und Ghettos in Polen und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas. Um die Arbeit zu unterstützen, können Sie entweder online spenden oder das Geld auf folgendes Konto überweisen:
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