Der erste Sonntag dieses Jahres begann für die Petterweiler Martinskirchengemeinde in aller Stille. Der Gottesdienst fiel aus, statt des Pfarrers öffnete ein Kirchenvorsteher die Tür. Nur eine einzelne Dame war gekommen. Er fragte sie, welche Wünsche sie habe. Ein Gebet? Eine Lesung? Sieht so die abgespeckte Zukunft der Kirchen nicht nur in dem Karbener Stadtteil nördlich von Frankfurt aus?
Dort haben sich seit Jahresbeginn fünf evangelische Gemeinden zu einer Gesamtkirchengemeinde (GKG) zusammengetan, eine Option, die von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) ab 2020 als regionales Modell auf freiwilliger Basis angeboten wird. Das Ganze soll keine Fusion sein - alle Teilnehmer bleiben als rechtlich selbstständige Körperschaften bestehen, es gibt nur einen gemeinsamen Vorstand. Und viele erhoffte Synergieeffekte, wenn die Arbeit zentralisiert werden kann. Doch Karben ist eine Sieben-Dörfer-Stadt in der südlichen Wetterau: im Stadtteil Kloppenheim wird künftig gar kein Gottesdienst mehr angeboten, und die Petterweiler lehnen das Konzept rundwegs ab.
"Wir verzichten auf nichts", erklärt dazu trotzig der Petterweiler Kirchenvorstand Michael Beczkowiak. Die fortan nur noch halbe Pfarrstelle statt der Dreiviertelstelle hätte es trotzdem gegeben wegen sinkender Mitgliederzahlen. Auch die Reduktion der Gottesdienste auf zwei pro Monat wäre unvermeidlich gewesen, erläutert er. Doch eine Aussicht motivierte zum Widerstand. Bisher arbeiten zehn Leute im Kirchenvorstand mit, weitere 200 beteiligen sich aktiv an der Gemeindearbeit. "Was machen wir mit diesem Schatz?", fragt Pfarrer Michael Neugber.
Im Karbener GKG-Vorstand wären es jetzt bloß drei Abgesandte gewesen, die nur noch mit dem Votum aller anderen Gemeinden etwas hätten bewegen können. "Das war der Grund abzulehnen, wir verlieren uns dort", meint Beczkowiak. Wo es schon schwer genug ist, Leute für die Gremiumsarbeit und Aktivitäten vor Ort zu gewinnen, sei das ein Rückschlag, findet auch Neugber. "Wir hätten auch mit einer Fusion leben können", sagt er. Aber nicht damit, dass die Gemeindemitglieder nur noch in speziellen Gremien mitwirken könnten, statt in ihrem lokalen Umfeld. "Jeder Ort müffelt anders", findet Neugber, es brauche das Gespür für die unmittelbaren Verhältnisse.
Er erinnert daran, dass die Idee mit der Zusammenarbeit eine lange Vorgeschichte hatte. Schon 2005 gründete sich die "ArGe der evangelischen Kirchengemeinden in der Stadt Karben". Damals war Neugber noch zuversichtlich über die Ziele: "Wie kriegen wir es hin, gemeinsame Aufgaben in gemeinsamen Gremien zu entwickeln, um die Gemeindearbeit auf gesunde Füße zu stellen?" Ums Sparen sei es dabei nicht gegangen, aber es habe auch kein richtiges Mandat gegeben, um zu handeln.
Mit dem Start der GKG wurde die ArGe im Dezember endgültig hinfällig. Neugber trauert dem nicht nach. Es sei bis zum Ende völlig unklar gewesen, wie die Gemeindearbeit vor Ort künftig aussehen solle. Das sei typisch für die heutigen Diskussionen innerhalb der EKD: "Welche Organisationsform rettet unsere Kirche?", rufe man, statt sich zunächst zu fragen: "Wozu sind wir gut, welchen Auftrag haben wir als Christen? Wo sind die Handlungsfelder?" Doch in der Karbener GKG hätte diese grundsätzliche Klärung erst ganz am Schluss stattgefunden, bedauert Neugber.
Nun müssen, nein, wollen die Petterweiler ihre Missionen selbst herausfinden. Für den Gottesdienst werden Andachtskonzepte entstehen, schon jetzt lockt ein Taize-Gottesdienst Besucher auch aus der Umgebung an. Musik, Lesungen, Diskussionen, Exerzitien oder Erntedank auf der grünen Wiese – vieles ist möglich. "Gottesdienst ist nicht nur Pfarrer und Liturgie", betont Neugber. Auch andere Partnerschaften sollen gepflegt werden. Die Kirchengemeinde im Nachbarort Rodheim liege viel näher, als jene in Klein-Karben, da könne man in den Ferienzeiten die Gemeindebüros in Rufbereitschaft setzen und etwa Patenscheine in dem Nachbarort ausstellen. Gleiches gelte für die Konfi-Arbeit, die ohnehin schwieriger geworden ist. Waren es früher noch 30 Kinder, so ließen sich 2019 nur noch fünf konfirmieren.
Neugber lobt den Wetterauer Dekan Volkhard Guth für dessen Unterstützung bei seiner Arbeit, für die er Freiräume erhalte. Überhaupt sei die evangelische Kirche sehr basisorientiert im Vergleich zu den strengen Vorgaben von oben bei der katholischen Kirche. Neugber hat insgesamt noch eine ganze Stelle, will sie nutzen, um mit Nachbargemeinden Schwerpunkte zu setzen. Er bewundert die Kollegen in Berlin-Mitte, die aus arger Finanznot kreativ geworden seien. Freikirchen hätten die Gemeindearbeit übernommen, Projekte wie die Arbeit mit Aussteigern aus der rechten Szene angepackt. Die Landeskirche habe sich nicht abgegrenzt, sondern gelobt: "Toll, dieses blühende christliche Leben".
Das ist für den Petterweiler Pfarrer der richtige Ansatz, denn da gehe es um Werte und Engagement. Er mahnt: "Wenn es nur ums Sparen geht – dann geht diese Kirche zu Recht kaputt!". Damit einher gehe bei vielen internen Diskussionen eine Angstmacherei vor der Zukunft. Auch das mache Kirche kaputt. Stattdessen müsse wieder die Freude am Gestalten sichtbar werden. Auch das habe bei der ArGe der Karbener Kirchengemeinden gefehlt. Ihm seien deswegen zehn Petterweiler Christen, die vom Wert ihrer Aufgaben völlig überzeugt sind, lieber als 1150 rein numerische Gemeindemitglieder, die nicht aktiv werden.