"Die Enthemmung im Internet wirkt sich zunehmend auf das reale Leben aus, wenn Bürgermeister zurücktreten und reale Personen angegriffen werden", sagte die frühere Studienleiterin des Studienzentrums der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Genderfragen im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).
Radtke war im Jahr 2017 Mitherausgeberin der EKD-Studie "Verhasste Vielfalt" zu Diskussionen im Netz und den sozialen Medien über Themen wie Homosexualität und Kirche, Gender sowie Flucht und Migration. Das Ergebnis der Studie sei überraschend gewesen, sagte Radtke: "Die krassesten Äußerungen wurden eben nicht anonym geschrieben, sondern von realen Personen mit ihren echten Namen." Häufig ließen sich diese dem politisch und kirchlich rechten Bereich zuordnen.
Abwertende Hassreden, auch als Hate Speech bezeichnet, lösten oft eine Spirale aus. "Je krasser man kommentiert und dafür mit Likes belohnt wird, umso mehr Endorphine (Glücksgefühle) werden im Körper ausgeschüttet und umso krasser kommentiert man wieder", erläuterte Radtke. Doch gegen diese Hassrede-Spiralen, die häufig geplant einen Shitstorm auslösten und sich so schneeballartig in den sozialen Medien verbreiteten, könne jeder mäßigend eingreifen.
In den sozialen Medien wie Facebook bekämen die Nutzern nämlich zuerst die Kommentare angezeigt, auf die es bereits viele Reaktionen gebe. Eine Gruppe könne daraus fälschlicherweise schließen, für eine Mehrheit zu sprechen. Daher sollte auf einen negativen Kommentar bestenfalls weder mit einem weiteren Kommentar noch mit einem "Gefällt mir nicht" reagiert werden, sagte Radtke. Sinnvoller sei es, einen positiven Beitrag als gut oder richtig zu bewerten, damit dann dieser zuerst angezeigt würde. "Wichtig ist eben nur, dass das möglichst viele machen."
Das Internet sei kein rechtsfreier Raum, betonte Radtke. Doch seien die Gemeinschaftsstandards der sozialen Medien viel zu niedrig. Die Pastorin ermutigte Angegriffene, sich stärker zur Wehr setzen: "Kirchliche Gremien und Personen haben da oft viel zu große Scheu." Nur mit einem stärkeren Eingreifen werde die Grenze des Sagbaren, die durch diskriminierende Äußerungen immer weiter unter Druck stehe, nicht weiter verschoben.