Es ist kurz vor 14 Uhr. Am großen Metalltor vor dem Atomkraftwerk Brokdorf hat sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Sie hängen bunte Transparente auf, breiten eine Decke auf dem Boden aus, eine Kerze wird daraufgestellt. Die Wachleute schauen gelassen zu, sie kennen das schon. Einige der Demonstranten begrüßen sie wie alte Freunde. Auch Hans-Günter Werner begrüßt seine Mitstreiter zur Mahnwache. Seit 33 Jahren kommt der Pastor an jedem 6. eines Monats hierher, um ein Zeichen für die weltweite Abrüstung und den Ausstieg aus der Atomenergie zu fordern. Am 6. November, wird der 72-Jährige sich zum 400. Mal vor dem Tor einfinden.
Der Ablauf ist immer der gleiche: Erst wird gesungen, meist zwei oder drei Lieder. Bei der anschließenden Vorstellungsrunde darf jeder sagen, was ihn gerade beschäftigt. Werner: "Auch wenn wir nur wenige sind, ist es wichtig, dass wir uns treffen." Gesungen werde aber erst ab drei Leuten, sagt er und lacht. Einen Monat vor dem Jubiläum sind Teilnehmer aus Brunsbüttel, Itzehoe, Elmshorn und Wedel sowie von der Basisgemeinde Wulfshagen dabei. Die Mahnwache ist nicht nur Demonstration, sondern auch Andacht. Sie verstünden sich als Christen in der Nachfolge Jesu, so Werner. Er liest aus der Bergpredigt. Nach weiteren zwei Liedern macht sich die Gruppe auf den Weg vom Haupttor zum Gedenkstein.
Tschernobyl als Auslöser
Er wolle keine Feindschaft aufbauen, betont Werner. "Wir haben deutlich gemacht, dass wir nicht gegen die Leute hier kämpfen, sondern für das Leben." Anfangs seien die Demonstranten von der Polizei weggetragen und verhaftet worden. Man habe sie wie Terroristen behandelt. Doch heute kommt keine Polizei mehr.
Hans-Günter Werner gehörte zu den Pastoren, die die Mahnwache 1986 nach der AKW-Katastrophe in Tschernobyl ins Leben gerufen haben. Die Inbetriebnahme des AKW Brokdorf war für Oktober 1986 geplant, der Protest begann bereits am 6. August, dem Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Es seien ein paar Tausend Leute dabei gewesen. Werner: "Wir haben damals unterschrieben, solange weiterzumachen, bis das Kraftwerk abgeschaltet ist. Ich bin der einzige, der sich dran gehalten hat." Viele hätten früher den Protest unterstützt, auch die heutige Bischöfin Kirsten Fehrs sei dabei gewesen, erinnert sich Werner.
Er selbst sei schon immer politisch gewesen. Das habe ihm auch immer Ärger mit der Kirchenleitung eingebracht. Als Pastor sei er damals für die Arbeitswelt zuständig gewesen, auch in seinem Ruhestand kümmert er sich noch um Arbeitslose.
Am Gedenkstein angekommen, tritt die Gruppe im Halbkreis zusammen. Es wird der Toten und Kranken von Tschernobyl gedacht. Ein Gedicht wird vorgetragen, das Vaterunser gebetet und noch einmal gesungen. Die Elbe liegt den Demonstranten zu Füßen. Hinter ihnen ist die markante weiße Kuppel des Atomkraftwerks zu sehen. In zwei Jahren muss das AKW spätestens abgeschaltet werden. Bis dahin wird Hans-Günter Werner weiterhin hierher fahren, an jedem 6. eines Monats.