Die jungen Leute, die an diesem Vormittag die Kirche Sankt Michael an der Waldemar-Straße in Kreuzberg ansteuern, können sich kaum vorstellen, dass hier vor 30 Jahren die Mauer durchführte. Sie wissen auch nicht, dass in 200 Metern Luftlinie mit der Sankt Michaels-Kirche-Mitte die Mutterkirche steht. Und auf der Westseite das Provisorium. Eine Gemeinde, geteilt 1961 durch den Mauerbau. Nur die doppelte Reihe Pflastersteine mit dem Schriftzug "Berliner Mauer 1961 – 1989" erinnert sie an den Betonwall. Links und rechts sind neue Wohnhäuser für Besserverdienende entstanden.
Die Jugendlichen wollen zum Gottesdienst. Die Atmosphäre spricht sie an. Es geht fröhlich, unverkrampft und herzlich zu. Es wird für sie deutlich, dass da eine feiernde Gemeinschaft zusammen ist, die sich wirklich als Gemeinschaft versteht. Michael Wiesböck, seit sieben Jahren Pfarrer in Sankt Marien-Liebfrauen, zu der diese Kirche gehört, sagt: "Nichts ist hier perfekt. Hier sind jedoch Leute am Werk, die das wirklich lieben, was sie tun."
Neben Pfarrer Michael Wiesböck sitzt an diesem sonnigen Oktobertag auch Schwester Annette. Sie lebt neben der Kirche und gehört zur Gemeinschaft der Franziskanerinnen von Sießen. Sie pflegen enge Kontakte zu Organisationen, die sich für randständige Menschen engagieren. Ein Fokus, der seit jeher zur Identität dieser Kirche gehöre.
Neben dem jugendpastoralen Zentrum des Bistums befindet sich hier auch die katholische KITA, in der sich die Franziskanerinnen engagieren. Für Michael Wiesböck ist die KITA "das Pfund, mit dem wir hier wuchern können."
Das Thema Mauer bringt Schwester Annette in der KITA bewusst ein. Gerade die Kinder, die selbst die Mauer nicht erlebt haben, und jetzt hier wohnen, sollen wissen, was das für ein Ort ist. "Seit einigen Jahren feiern wir mit den Kindern das Michaelsfest. Zusammen schauen wir dann bewusst unsere Kirche an, in deren Altarraum rötliche Formsteine aus der ursprünglichen Michaelskirche eingebaut sind." Ost-Michaeliten brachten diese im Herbst 1989 mit, um die Verbindung mit der Mutterkirche zu symbolisieren. Mit den Kindern, so Schwester Annette, spaziere sie dann jeweils rüber zur Sankt Michaelskirche-Mitte, wo sie die Steine an der Fassade wiederfinden sollen. "Das ist eine richtige Entdeckungsreise für die Kinder!"
Zum Gespräch gesellt sich Mechtild Boisserée. Sie mag diese Kirche, in der sie unter anderem ehrenamtlich als Lektorin, Kantorin und Küsterin arbeitet. Die ehemalige Lehrerin begann am katholischen Kindergarten 1988 als ABM-Kraft und fühlt sich in dieser "bunt gemischten Kirche" sehr zu Hause. Vom Professor bis zu Randständigen sei hier alles anzutreffen. Besonders gefalle ihr, wenn sich die Leute bei der Kommunion alle vorne im Kreis aufstellen. Ein tragender Anker der Gemeinde sei das Ehepaar Susanne Deufel-Herbolte und Reinhard Herbolte, die hier schon seit den 80er Jahren intensiv wirken.
Für die 61-Jährige, die an der Mauer groß geworden ist, ist der Mauerfall ein großes Geschenk. Noch immer erinnere sich daran, wie die Segmente im Dezember 1989 hier abgebaut wurden. Pikant: Noch im Herbst 1989, erzählt ihr Mann Christoph Boisserée, wurden die Renovierungsarbeiten in St. Michael Kreuzberg fertig. Der gebürtige Kölner erinnert sich: "Am 9. November 1989 dachte ich: Nun haben wir die falsche Kirche renoviert. Das Geld hätten wir drüben investieren müssen."
Das Ehepaar Boisserée hat schon seit vielen Jahren Kontakt zu Thomas Motter, dem Vorsitzenden des Fördervereins zur Erhaltung der katholischen Kirche St. Michael Berlin-Mitte e.V. Manche nennen ihn die "gute Seele" dieser Kirche, weil der 68-Jährige manchmal Küster, Lektor und Ministrant in Personalunion ist. Thomas Motter ist in dieser Kirche, die 1945 durch Bomben stark beschädigt wurde, aufgewachsen. Gottesdienst feiert die Gemeinde seit 1953 im Seitenschiff der Kirche.
Der bärtige Mann mit dem warmen Blick war zehn Jahre alt, als 1961 am Engeldamm die Mauer gebaut wurde. Direkt da, wo er wohnte. Er erlebte die Teilung auch in der Gemeinde mit all ihren brutalen Konsequenzen mit: "Das war hier erst einmal ein großer Einbruch, weil über 80 Prozent der Gemeinde in Kreuzberg wohnte. Die Jugend- und die Kindergruppen fielen erst einmal größtenteils weg."
Nach dem Mauerfall versuchten die beiden Gemeinde-Teile wieder zusammenzufinden. "Der Wille war da und es gab etliche Versuche, vieles gemeinsam aufzubauen", betont er. Der offizielle Zusammenschluss habe jedoch nicht stattgefunden, "weil es an verschiedenen Stellen knirschte." Die Gemeindestrukturen und Bedürfnisse, so bestätigt auch Christoph Boisserée, haben sich durch die Teilung zu unterschiedlich entwickelt. 2000 kam Kreuzberg mit Sankt Marien-Liebfrauen zusammen und Sankt Michael-Mitte 2003 zu Sankt Hedwig.
Gartenparadies mit Ruinenromantik
In den letzten Jahren jedoch, so Thomas Motter, hätten sich die beiden Gemeindeteile wieder angenähert durch verschiedene gemeinsame Aktivitäten. Es gebe unter anderem einen gemeinsamen Kreuzweg, der in der Fastenzeit begangen werde.
Als beliebter Treffpunkt hat sich der 1994 angelegte Garten entwickelt. Er befindet sich dort, wo einst das Hauptschiff der Kirche war. Wegen seiner pittoresken Atmosphäre, so Thomas Motter, sei dieser Ort unter anderem beliebt für Hochzeitsfeiern und Konzerte des Fördervereins. Überhaupt sei diese Kombination aus Ruine, Garten, Gemeindezentrum sowie Kirche in Berlin einmalig. Thomas Motter, der lange als selbständiger Maurermeister mit eigenem Betrieb gearbeitet hat, hat hier manchen Formstein selbst ausgebessert. Natürlich treffe sich hier auch die Gemeinde nach dem Gottesdienst und bei Gemeindefesten.
Wenn man ihm zuhört, ahnt man: Hier zählt jede Hand. Wie vielerorts seien, so Thomas Motter, die Nachwuchssorgen groß. "Es ist schwierig, die Leute bei der Stange zu halten, aber wir machen etwas aus der Situation", sagt er. Jene Leute jedoch, die sich als Lektor, Chormitglied oder im Maximilian-Kaller-Kreis betätigen, seien sehr engagiert.
Durch eine besondere Konstellation kommen sich die beiden Gemeinde-Teile wieder näher: Im Rahmen des Pastoralen Raumes Berlin-Mitte gehören Sankt Michael Kreuzberg und St. Michael Mitte ab 2021 wieder zu einer Pfarrei. "Ein Treppenwitz der Geschichte", kommentiert Thomas Motter vergnügt die windungsreiche Entwicklung seiner Gemeinde. Plötzlich sitze man wieder in denselben Gremien wie vor langer Zeit. Thomas Motter freut sich jedenfalls über den Annäherungsprozess: "Ich sehe eine Chane, dass wir jetzt intensiver zusammen wachsen werden."
Den 9. November 2019, den 30. Jahrestag des Berliner Mauerfalls, wird Thomas Motter ganz unspektakulär begehen. Zusammen mit anderen werde er im Garten der Kirche arbeiten und ihn winterfest machen. Er werde aber auch am Stadtspaziergang in der Luisenstadt teilnehmen, den die Gemeinde seit einigen Jahren zusammen unternimmt. Die Teilnehmer werden den einstigen Mauerverlauf abgehen und an einzelnen Stationen Zeitzeugen lauschen.
Das Ehepaar Boisserée kennt diesen Weg bestens. Er hat, wie auch die Kirchen Sankt Michael Kreuzberg und Sankt Michael Mitte, eine besondere Bedeutung in ihrem Leben: In der Kirche an der Waldemarstraße haben sie 1993 geheiratet. Im letzten Jahr hat das Paar in der alten Mutterkirche und in der romantischen Garten-Ruine seine Silberhochzeit gefeiert. Mechthild Boisserée sagt: "Dann haben wir einen wirklich schönen Spaziergang gemacht."