Herr Schwikart, sind Protestanten überflüssig?
Georg Schwikart: Nein, überhaupt nicht. Wieso?
So lautete der Untertitel eines Buches, das Sie vor neun Jahren zusammen mit dem Publizisten Uwe Birnstein geschrieben haben.
Schwikart: Das war schon damals mit einem Augenzwinkern geschrieben. Jeder von uns hat eine Hälfte beigesteuert, in der er die Vorzüge seiner Konfession herausstellt – mit einer Prise Selbstkritik. Damit entwickeln wir den Gedanken: Wir sind in unseren Konfessionen zuhause, und das hilft uns. Aber wichtiger ist, dass uns viel verbindet.
Was verbindet uns denn?
Schwikart: Bis zur Trennung von westlicher und östlicher Kirche hatten wir Christen tausend gemeinsame Jahre, dann folgte im Westen ein weiteres gemeinsames halbes Jahrtausend. Erst durch die Reformation haben sich Konfessionen entwickelt. Uns Christen verbindet die Hierarchie der Wahrheiten: Dass wir an Gott glauben und ihm vertrauen, eint uns viel tiefer als uns die Frage trennt, wie wir Kirche sind, wie wir Abendmahl oder Eucharistie feiern und wer in der Kirche was zu sagen hat. Ich bin deshalb heute noch katholisch, so wie ich früher bereits schon evangelisch war. Beides hat in mir immer miteinander gerungen. Das ist mein persönliches Lebensthema.
"Ich habe die Illusion aufgegeben, dass es die eine große Kirche gibt."
Was haben Sie aufgegeben, als sie in die evangelische Kirche eintraten?
Schwikart: Ich habe die Illusion aufgegeben, dass es die eine große Kirche gibt, die die Welt umspannt, in der alles gut ist und alles seinen Platz hat. Die katholische Kirche bewahrt durch das Weiheamt und ihre Struktur in der Form mehr Einheit als der Protestantismus – der Form nach; tatsächlich ist sie ja auch ziemlich vielfältig. Aber für die Einheit der Form zahlt sie einen zu hohen Preis. Etwa den, dass Frauen kein Weiheamt haben. Das ist ein Unding. Zum anderen fördert der hierarchische Aufbau Duckmäusertum. Gute Priester in Gemeinden und in höherer Verantwortung trauen sich nicht, zu sagen, was sie denken. Das schadet der Kirche.
In der evangelischen Kirche sagt jeder, was er denkt, und sie kommt nicht voran, kritisieren manche.
Schwikart: Ja, das ist anstrengend. Aber man kann seine Repräsentanten wählen. Die Gemeinde wählt ihren Pfarrer, der Kirchenkreis oder das Dekanat einen Superintendenten oder Dekan. Das erhöht die innere Zustimmung. Das ist nicht immer effizient, aber besser, weil es die Beteiligung der Menschen stärkt.
Ihre, die rheinische Kirche, betreibt gerade ein Projekt mit dem Namen "Leichtes Gepäck". Sie will weniger schwerfällig werden, Kompetenzen nach unten weitergeben und die Regelungsdichte lockern. Können Sie sich eine leichtfüßigere Kirche vorstellen, die näher bei den Menschen ist?
Schwikart: Das unterstellt, dass das Institutionelle die Kirche von den Menschen wegrückt. Aber es hat Vorteile. Wir halten ein Angebot vor; das kostet Geld und braucht Regeln. Es gibt jeden Sonntag einen Gottesdienst, gleich wie wenige kommen. Niemand sagt: Das lassen wir, es lohnt sich nicht. Wenn Menschen zur Kirche gehen wollen, sind wir da. Ich stimme aber zu, dass die Regelungsdichte abgebaut werden kann – solange nicht das Gemeinsame verlorengeht. Die Liturgie zum Beispiel sollte nicht jede Gemeinde völlig selber bestimmen.
Ihr neues Buch handelt vom Alltag in der Kirche. Was erwarten Menschen heute von der Gemeinde?
Schwikart: Das hat sich grundlegend geändert. Als ich Kind war, haben wir uns selbstverständlich in der Kirche getroffen und Ikebana gesteckt, tanzen gelernt und Filme gesehen. Kirche hat die Freizeit gestaltet. Heute brauchen wir die Kirche dafür nicht mehr. Und ich schiebe ein: Das hat gute Seiten. Über die Kirche lief viel Sozialkontrolle. Man musste sich sehen lassen, und man musste sich verhalten wie alle. Wehe, du warst schwul oder geschieden. Ich bin froh, dass das vorbei ist. Wir sind freier geworden. In einer Umfrage sagten die Eltern unseres Kindergartens, eigentlich erwarteten sie gar nichts von der Kirche. Laden wir aber zum Eltern-Café ein, während die Kinder im Bilderbuchkino sind, kommen sie gern. Und wenn die Kinder im Gottesdienst singen, zücken sie das Handy und sind glücklich. Kirche ist nicht mehr selbstverständlich, aber sie kann einen Platz im Leben der Menschen einnehmen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wohin wollen sie Ihre Gemeinde weiterentwickeln?
Schwikart: Ich möchte der Gemeinde helfen, selbstständiger zu werden. Die, die kommen, sollen über ihren Glauben reden und den Glauben feiern können. Und sie müssen lernen, miteinander zu streiten, Verschiedenheit auszuhalten und einander zu helfen. Die Rundumversorgung wie jetzt wird Lücken bekommen. Das wird schwer, aber wenn wir es einüben und wenn der Geist Gottes wirkt, dann geht es. Wir müssen unabhängiger werden von unserem Reichtum.
Wie geht das praktisch in Ihrer Gemeinde?
Schwikart: Wir fragen jetzt, in guten Zeiten: Was brauchen wir unbedingt, und wovon können oder müssen wir uns verabschieden? Dann können wir den Abschied produktiv gestalten, und er bricht nicht über uns herein. Kirche hängt nicht am Reichtum. In armen Ländern lebt sie ja auch.
Wie verändert das Ihre eigene Rolle?
Schwikart: Das Amt des oder der Ordinierten wird bleiben. Ich möchte frei sein für Verkündigung und Seelsorge, die aus vielen Einzelgesprächen besteht und Zeit erfordert. Deshalb hat meine Gemeinde eine Ehrenamtskoordinatorin eingestellt. Sie macht mit den Freiwilligen Pläne, die ihnen entsprechen, ihrer Zeit und ihren Fähigkeiten, und sie bleibt an ihrer Seite. Ich stehe dadurch nicht mehr unter der Erwartung, Wertschätzung dadurch auszudrücken, dass ich alle Veranstaltungen besuche.
Wie funktioniert Ökumene, wenn man früher katholisch war?
Schwikart: Von meiner Seite läuft das unproblematisch, denn ich sehe mich als Brückenbauer. Zum Glück sieht mein katholischer Kollege vor Ort das genauso. Wir haben am Anfang geklärt, dass wir einander nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich lade ihn zum Beispiel nicht zum Abendmahl ein und gehe nicht bei ihm zur Kommunion. Aber wir vertreten uns gegenseitig: Wo einer von uns ist, da ist die Ökumene. Am Volkstrauertag gehen wir abwechselnd zum Gedenken vor dem Ehrenmal und grüßen im Namen aller Kirchengemeinden. Ich habe schon in seiner Kirche den Einschulungsgottesdienst gemacht, als er nicht konnte.
Ihrer früheren Kirche geht es nicht gut. Der Missbrauch und seine zögerliche Aufarbeitung hat viel Vertrauen zerstört. Frauen begehren auf, Laien wollen die Dominanz der geweihten männlichen Amtsträger infrage stellen, die man als einen Nährboden für Gewalt und Vertuschung sieht. Aber der Streit darum scheint die Kirche zu zerreißen.
Schwikart: Es tut mir in der Seele weh. Aber mein Mitleid hält sich in Grenzen. Schon vor 40 Jahren habe ich mich als Ministrant aufgeregt, dass wir keine Mädchen hatten. Den Zölibat hielt ich für eine gute theologische Idee, aber ich sah bald: Unter der strikten Pflicht zur Ehelosigkeit leiden die meisten katholischen Kollegen. Und wir wussten schon vor 40 Jahren, dass Kinder missbraucht werden! Mehr als eine Generation lang wurden Probleme verschleppt. Die Kirche hat sich keinen Zentimeter bewegt. Wie kann das sein? Ich habe volles Verständnis für Menschen, die die Konsequenz ziehen: Da mache ich nicht mehr mit! Und ich bewundere alle, die sich jetzt um Reformen bemühen. Sie haben meine Unterstützung. Aber ich kann verstehen, dass man dabei schwermütig werden kann.
Haben Sie Hoffnungen im Blick auf Papst Franziskus?
Schwikart: Unter Johannes Paul II. herrschte eine Generation Eiszeit. Unter Benedikt XVI. folgten acht verlorene Jahre. Mein Urteil über Franziskus bleibt zwiespältig. Er hat einen Klimawandel in der Kirche herbeigeführt. Fragen nach Zölibat, Frauenordination und Sexualmoral waren 30 Jahre lang tabu, jetzt dürfen sie auf den Tisch. Nur müssen jetzt Konsequenzen folgen. Aber noch tut sich nichts.
Mit welchen Reformen rechnen Sie?
Schwikart: Ich weiß es nicht. Und ich bin erleichtert, dass es nicht mehr mein Problem ist. Aber meiner Frau und meinen Kindern, die katholisch sind, wünsche ich von Herzen Licht am Ende des Tunnels: Dass sich etwas bewegt, dass Reformen kommen und die Mitglieder sich nicht ohnmächtig und ausgeschlossen fühlen.
Sind Protestanten fein raus?
Schwikart: Nein, wir sind ja mitbetroffen. In meinem Buch habe ich darauf hingewiesen, dass der Missbrauch das unbefangene Verhältnis zu Heranwachsenden erschwert. Einen Konfirmanden darf ich nicht einfach mal im Auto mitnehmen, und eine Jugendliche nicht zum Gespräch im Pfarrhaus empfangen. Das ist ein Jammer.
Können Protestanten ihren katholischen Mitchristen helfen?
Schwikart: Vielleicht können wir den katholischen Schwestern und Brüdern ein bisschen beistehen. Die Situation bedrückt sie unglaublich. Sie fallen dem Klerikalismus in jeder Beziehung zum Opfer. Das reicht bis zu den Strukturreformen, die alle von oben entschieden werden. Im Erzbistum Köln werden die früheren Pfarrgemeinden und späteren Seelsorgeeinheiten zu "Sendungsräumen" zusammengefasst, weil die Priester weniger werden. Die Einheiten werden also noch größer. Das absorbiert mittlerweile seit Jahrzehnten alle Energie: Wo verlaufen die neuen Grenzen? Wer wird jetzt wofür verantwortlich sein? Maßstab ist die Erhaltung des Klerikalismus: der Bischof und am Ort der Pfarrer müssen alles entscheiden. Für die Frage, wie wir das Reich Gottes bezeugen, ist gar kein Platz mehr. Nun kommt der Rückgang auch auf uns zu. Der Protestantismus kann lernen, bessere Wege zu finden. Zugleich sollten wir offensiver das evangelische Modell anbieten: Wir können über solche Fragen diskutieren und uns gemeinsam für Lösungen entscheiden. Es wird nicht alles von oben dekretiert, und vor allem hängt unser Kirchenverständnis nicht daran, dass einer bestimmt. Jede und jeder hat eine Stimme. Männer und Frauen können alle Ämter bekleiden. Es tut gut, dass wir darüber keinen Streit mehr ausfechten müssen. Wenn ich in meinem Umkreis darüber informiere, hören manche Katholiken genau hin.