In den 70er-Jahren entdeckte der deutsche Organist und Dirigent Karl Richter im brasiliansichen Hochland ein Instrument, dass ihm merkwürdig vertraut vorkam. Die klare Bauweise, die gleichmäßig an- und absteigenden Pfeifen und der kompakte Korpus ließen eigentlich keinen anderen Baumeister zu als Arp Schnitger. Die Verwirrung war groß. Denn wie kam so ein Instrument ins Hinterland von Minas Gerais?
Als Elisa Freixo die Orgel kennen lernte, war sie in einem schlechten Zustand: "Sie war sehr schmutzig, die kleinen Flöten waren weg, die Zungen haben auch große Probleme gemacht. Termiten fraßen das Holz." Die Orgel musste dringend restauriert werden. Also betraute die Kirchengemeinde eine Hamburger Orgelwerkstatt mit der Restaurierung. Das Ergebnis war eine der originalgetreuesten historischen Orgeln der Welt.
"Die Verzierungen sind wahrscheinlich noch original aus dem 18. Jahrhundert", sagt Elisa Freixo und zeigt auf die chinesischen Bemalungen an den Türen am vorderen Teil der Orgel. "Das war so eine Modererscheinung im Portugal jener Zeit. Wer mit seinem Reichtum protzen wollte, bemalt seine Orgeln in rot-gold, mit Pagoden und chinesischen Schiffen."
Lange Jahre hat die Organistin Elisa Freixo auf der Orgel Konzerte gegeben – neben Bach und Buxtehude spielte sie auf ihr auch moderne Orgelmusik aus Brasilien. Die Konzerte waren voll, die Menschen staunten über die exotischen Orchesterklänge aus dem Kasten.
Doch seit drei Jahren schweigt die Orgel, in ihre Einzelteile zerlegt, eingelagert in einem Museum. Denn die Kathedrale von Mariana ist geschlossen. Schon länger war sie kein würdiges Zuhause mehr für das Instrument: Die Elektrik schmorrte in den porösen Wänden vor sich hin, auch die Empore entsprach nicht mehr dem neusten Stand der Statik. Die Kirche musste geschlossen werden, ein Jahr sollte die Renovierung dauern. Das war 2016. Und nach dreieinhalb Jahren schweigt die Orgel noch immer. Für Elisa Freixo ein Ding der Unmöglichkeit. Denn die Orgel ist weltweit einzigartig.
Um 1700 entsteht in der Werkstatt des Hamburger Orgelbauers Arp Schnitger die größte Orgel der Welt. In der Hamburger Jacobikirche steht seitdem ein Koloss mit über 4.000 Pfeifen. Die Nachricht von dem sensationellen Instrument verbreitete sich mit den Hamburger Kaufleuten bis ins ferne Lissabon. Zu der Zeit waren die Portugiesen eine reiche Seefahrernation. Ihr Reich erstreckte sich von Südamerika bis ins ferne China. Mit einem prunkvoll verzierten Instrument aus Deutschland wollte der portugiesische König seine weltweite Vorherrschaft unterstreichen.
Arp Schnitger baute also ein Instrument für die Kathedrale in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon. Doch der König bekam einen Tipp, wie er das Instrument noch gewinnbringender einsetzen könnte. Denn in der Neuen Welt hatten portugiesische Jesuiten gerade enorme Schwierigkeiten, den Menschen in Brasilien den katholischen Glauben schmackhaft zu machen. Die Indios könnten – so schrieb der Bischof von Brasilien 1552 an den portugiesischen Hof - nicht einmal 45 Minuten stillsitzen, um seiner Predigt gebannt zu lauschen. Aber an einem Punkt habe man die Aufmerksamkeit der Ureinwohner doch noch erregen können: "Sie lieben alles was neu ist.". Deswegen möge man doch bitte nicht vergessen, weitere Orgeln nach Brasilien zu schicken - um die "Wilden" bei der Stange zu halten.
So kam auch die alte Dame aus Hamburg im Jahre 1753 von Lissabon nach Rio de Janeiro. Die Orgel verließ die portugiesische Hauptstadt gerade rechtzeitig, denn 1755 wurden große Teile der Stadt von einem Erdbeben zerstört. Ihre neue Heimat fand das Instrument schließlich in der Goldgräberstadt Mariana, im Hochland von Minas Gerais. Die Stadt war so reich, dass sie sich - als eine von wenigen - eine Kathedrale mit eigenem Organisten leisten konnte.
Der Arp-Schnitger-Experte Harald Vogel erzählt, dass Orgeln gar nicht so selten ihren Weg über den Ozean fanden: "Übrigens auch auf die kanarischen Inseln. Wenn die Schiffe von Hamburg nach Südamerika fuhren, hatten sie eben Platz, um etwas mitzunehmen." So sei ein Handelssystem entstanden, in dem Orgeln eine Rolle spielen. Denn die Hamburger Kaufleute kamen in der Zeit nach dem dreißigjährigen Krieg um die ganze Welt. Hamburg wurde nie belagert, sondern belieferte sogar alle Kriegsparteien mit Waffen und Munition. So kam die Hansestadt zu einigem Wohlstand – und konnten sich die teuersten Orgeln und besten Organisten der Zeit leisten. Und mit den Kaufleuten verbreitete sich auch der norddeutsche Orgelbaustil von Arp Schnitger.
Historische Orgeln erleben in Brasilien gerade einen Boom: "Im 20. Jahrhundert fielen wir in Brasilien in ein sehr großes Loch", erzählt Elisa Freixo, "keiner interessierte sich mehr für die Instrumente. Erst meine Generation hat das wieder angefangen. Jetzt werden Orgeln restauriert, neu gekauft, neu gebaut, bestellt." Umso frustrierender, dass "ihre" Orgel schweigen muss. Und so zählt Elisa Freixo die Tage, bis die einzige Arp-Schnitger-Orgel außerhalb Europas wieder erklingen kann.