"Im Gespräch erfährt man viel", sagt Bettina Spahn. Die Leiterin der Katholischen Bahnhofsmission am Münchner Hauptbahnhof ist eine einfühlsame Zuhörerin. Armut, Obdachlosigkeit, Sucht: Die christlichen Einrichtungen sind oft Anlaufstellen für Menschen, die nicht wissen, wohin sie sich sonst wenden sollen oder die in anderen sozialen Einrichtungen nicht mehr ankommen. Seit 125 Jahren, seit 1894, sind Bahnhofsmissionen willkommene "Inseln" in einem beschwerlichen Leben. Am 27. September wird am Berliner Ostbahnhof das Jubiläum gefeiert.
Fast immer geht es in Spahns Gesprächen um Armut, etwa um die Rente, die nicht reicht. Sie hört von Überschuldung, die junge Familien dazu bringt, am Bahnhof um Babywindeln zu bitten. Von Migranten und ihren Arbeitsverhältnissen am Rande oder schon jenseits der Legalität. Von psychischen Erkrankungen. Von Wohnungslosigkeit. "Bei vielen ist das Leben auf Kante genäht", sagt Spahn. Die Münchner Bahnhofsmission wurde 1897 gegründet und ist nach der Berliner die zweitälteste. Durchschnittlich 300 Menschen fragen hier jeden Tag nach Hilfe. Sie bekommen von den Helferinnen und Helfern in ihren leuchtend blauen Westen mit gelb-weiß-rotem Symbol Getränke und eine Brotzeit. Es gibt eine Notversorgung mit Kleidung, vor allem aber eine professionelle Sozialberatung - und nachts wird der Aufenthaltsraum an Gleis 11 zu einem Refugium für Mädchen und Frauen.
Zwei Millionen Kontakte pro Jahr
Träger der Anlaufstelle sind der katholische Verein IN VIA und das Evangelische Hilfswerk München. "Neue Entwicklungen werden als erstes hier auffällig", erklärt Spahns evangelische Leitungskollegin Barbara Thoma. Flüchtlingskrise, EU-Osterweiterung - die Bahnhofsmission sei wie ein Seismograph, der neue Schwingungen wahrnehme, bevor sie in Politik und Gesellschaft ankämen. Die Helferinnen und Helfer der Bahnhofsmissionen erlebten in ihrer Geschichte am Drehkreuz Bahnhof helle und dunkle Stunden, mit Hamsterfahrten in Hungerzeiten, Vertriebenen, heimkehrenden Kriegsgefangenen, Besuchsfahrten von Rentnern aus der DDR oder zuletzt 2015 die Herausforderung zu versorgender Flüchtlinge.
Die Unterstützungsangebote der 105 Einrichtungen sind keineswegs überall in Deutschland gleich, die Träger entscheiden darüber in eigener Hoheit. Zwei Millionen Kontakte werden pro Jahr registriert. Das sind ganz überwiegend ältere Reisende oder Menschen mit Behinderungen, die Hilfen etwa beim Umsteigen brauchen. Der Alltag der Bahnhofmissionen ist ein dauerhafter Balanceakt zwischen Reisebegleitung und sozialer Hilfe: "Spannungen sind da vorprogrammiert; jedem und jeder gerecht zu werden ist schwer, wenn nicht unmöglich", schreibt Michael Goller, Autor der Studie "Monitoring für die Bahnhofsmissionen" (2017).
Netzwerk mit verschiedenen Partnern
Die Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland beginnt in Berlin im Herbst 1894, am einstigen Schlesischen Bahnhof, dem heutigen Ostbahnhof. Eine Handvoll Frauen des Vereins "Freundinnen junger Mädchen" versuchten, die per Bahn vom Land kommenden Mädchen vor Ausbeutung und Missbrauch zu schützen. Junge Frauen aus den Dörfern strömten Ende des 19. Jahrhunderts in die wachsenden Monopolen, um Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Die aufstrebenden bürgerlichen Schichten suchten nach Personal, Köchinnen, Dienstmädchen und Putzfrauen. Doch organisierte Kriminelle machten sich die Unwissenheit der ankommenden Mädchen zunutze und lockten sie als rechtlose Arbeitskräfte in Fabriken oder verkauften sie gar als Prostituierte.
Bereits 1884 richtete der "Internationale Verband der Freundinnen junger Mädchen" im schweizerischen Genf das erste Bahnhofswerk ein. Ab dem 1. Oktober 1894 empfingen dann in Deutschland die Berliner "Freundinnen" die jungen Frauen direkt am Bahnsteig, berieten sie und besuchten sie später auch in ihren Quartieren. Zeitgleich trat der "Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend" in Aktion, gegründet vom evangelischen Pastor Johannes Burckhardt. "Die entscheidende Institutionalisierung ständiger Bahnhofsmissionsarbeit in Berlin im Jahre 1894 ist auf dessen Initiative zurückzuführen", sagt der Soziologe Bruno W. Nikles.
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Bald entstand ein Netz von Bahnhofsdiensten, die auch von jüdischen Organisationen oder dem Roten Kreuz angeboten wurden. 1897 öffnete eine Bahnhofsmission in München, schnell folgten weitere Städte. Ökumene wurde bereits früh gelebt: Früh traten evangelische und katholische Bahnhofsmissionen gemeinsam auf, wovon seit 1898 einheitliche Plakate zeugten. 1910 wurde die bis heute bestehende Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission in Deutschland gegründet.
"Wir verstehen uns als die lebendige Existenz der Kirche am Bahnhof", sagt Klaus-Dieter Kottnik, seit 2017 Bundesvorsitzender der Evangelischen Bahnhofsmission. Sie gäben "Raum, einfach da zu sein, für Gespräche, vor allem für Seelsorge". Menschen könnten sich vorbehaltlos "mit allen Anliegen an die Mitarbeitenden wenden". Sie fänden in der Regel geeignete Gesprächspartner, die auch weitervermitteln könnten - dank der sehr guten Vernetzung mit vielen anderen Anbietern sozialer Hilfen.
Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich 2017 bei einem Besuch der Bahnhofsmission am Berliner Bahnhof Zoo berührt vom Einsatz der haupt- und ehrenamtlichen Helfer: Die Mission zeige mit ihren Hilfsangeboten vielen Obdachlosen "einen neuen Lebensweg auf, damit sie wieder Boden unter die Füße bekommen".