Carsten Baumann war am 29. Juli 2019 ziemlich schnell an Gleis 7. Montagmorgens, um zehn vor zehn, war es passiert. Weit draußen, "ungefähr im Bereich E", sagt Carsten Baumann. Er ist Diakon und Leiter der Frankfurter Bahnhofsmission, deren Räume an Gleis eins, am Südausgang des Kopfbahnhofs liegen. Er sah noch, wie die Mutter auf einer Liege davongetragen wurde.
Dann sorgte er in den Räumen der Bahnhofsmission dafür, dass Zeugen, Notfallseelsorger, Polizisten und andere Einsatzkräfte einen Ort hatten, an dem sie sprechen und sich zurückziehen konnten.
In der gleichen Woche rannten zwei Männer nach einem Banküberfall in den Hauptbahnhof - er wurde gesperrt. "Diese Ereignisse lassen sich nicht vergleichen; aber sie sorgten für ein Erschrecken innerhalb einer Woche, dass die Stimmung aller Mitarbeiter in der Bahnhofsmission weiter trübt", sagt Baumann. Seit vier Jahren arbeitet er in der Bahnhofsmission. Doch so, wie nach diesen Tagen, habe er sich noch nie gefühlt, sagt er. "Zwei Tage nach dem Tod des Jungen hatte ich frei, ich konnte zuhause nur auf dem Sofa sitzen und weiter nichts machen."
Durcheinander und aufgebracht sei die Stimmung unter den Menschen gewesen, die mitansehen mussten, wie der psychisch kranke Mann erst eine alte Frau, dann die Mutter, dann das Kind schubste. Die ältere Frau habe eine heftige Armverletzung gehabt, sagt Carsten Baumann. In den Gesprächen, die später in der Bahnhofsmission stattfanden, war er froh zu hören, dass einige Reisende am Gleis den flüchtenden Mann sofort verfolgt und aufgehalten hatten, sodass die Bundespolizei ihn hatte festnehmen können.
"Zivilcourage ist leider nicht selbstverständlich", sagt Baumann. An einem Arbeitsplatz wie dem Bahnhofsviertel lasse sich gut beobachten, dass viele Menschen an der Not lieber vorbeiliefen und die Augen verschlössen.
Das Ende von Gleis 7 am Hauptbahnhof Frankfurt ist bis heute als kleine Gedenkstätte mit schwarz-gelbem Absperrband umrandet. Reisende halten an, um sich alles genau anzuschauen, manche weinen: Haufenweise Kuscheltiere, Spielzeugautos, selbstgemalte Bilder und Briefe an die Familie liegen dort. Auf einer gerahmten Leinwand steht: „Als ich geboren wurde, habt ihr gelacht und ich geweint. Nun lächle ich und ihr weint…Ruhe in Frieden, kleiner Mann.“ Sieben Säcke Kuscheltiere waren alleine in den ersten paar Tagen zusammengekommen. Auch Schals des Fußballclubs Eintracht Frankfurt hängen am Geländer und eine Sachertorte stand mitten drin. Diese und viele der Blumen sammelten die Mitarbeiter schnell ein, da sie wegen der Hitze angefangen hätten zu modern, sagt Baumann.
Nicht nur die Fülle an Dingen, die an Gleis 7 zu finden sind, zeige, auf welche Art die Menschen mit der Familie trauern. Auch die breite Solidarität und das Mitgefühl mit der Familie während der ökumenischen Andacht, einen Abend nach dem Tod des Jungen, habe deutlich gemacht, dass die Menschen in dieser Situation füreinander da sein wollten. "Wir hatten 400 bis 500 Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz. Sehr viele Medien sind gekommen."
Carsten Baumann ärgert deswegen, dass die BILD als einzige Zeitung eine Skandal-Überschrift auswählte: "Frankfurt: Hässliche Szenen bei der Andacht am Hauptbahnhof", hieß es. Gemeint gewesen seien eine Handvoll Menschen, erklärt Baumann, er spricht von vier oder fünf, darunter eine Frau, die ein Schild mit der Aufschrift "Diese Politik tötet das Volk" in den Händen hielt. "Die wurden von der Stadtgesellschaft aber ganz schnell an den Rand gedrängt."
Seit Mitte August veranstaltet die Bahnhofsmission nun jeden Donnerstag von 11 bis 11 Uhr 15 eine kleine Andacht in ihrem Raum der Stille, in der des kleinen Jungen gedacht werden soll. Auch ein Kondolenzbuch für die Eltern und die Schwester liegt dort aus. Darin heißt es: "Es ist unfassbar, was geschehen ist. Möge das schöne Erlebte die nötige Kraft geben, irgendwie mit dem veränderten Leben mit der Zeit klar zu kommen. Gott segne Sie alle."